Todesregen
die sie nicht in Worte fassen konnte, hatte sie das Gefühl, er zählte mehr denn je.
»Um herauszubekommen, was wir tun sollten«, sagte Neil, »müssen wir uns vielleicht erst mal fragen, was wir wissen .«
»Immer weniger.«
Ironisch wiederholte Neil das Eliot-Zitat: »›All unsere Kenntnis führt uns näher an die Unkenntnis.‹«
Unter der Sitzfläche der Bänke war Platz für die Beine. Unwillkürlich bewegte Molly die Füße nach hinten, da fiel ihr die verschwundene Puppe ein.
War das unheimliche Ding in der kurzen Dunkelheit zwischen dem Erlöschen der Lampen und dem Anzünden der Kerzen vielleicht in diese Nische und unter ihre Bank gekrochen, augenlos und doch alles sehend, mit zungenlosem Mund und dem atemlosen Schweigen eines sich anpirschenden Raubtiers?
Mühsam widerstand Molly dem Drang, aus der Nische zu fliehen und mit einer Taschenlampe unter die Bank zu leuchten. Hätte sie das getan, so hätte sie einer kindischen Angst nachgegeben, und dann wäre es ihr noch schwerer gefallen, genügend Mut aufzubringen, um den echten und ernsteren Gefahren entgegenzutreten, die mit Sicherheit zu erwarten waren.
Es war nur eine Puppe. Selbst wenn sie gleich eine kleine Hand an ihrem Knöchel spüren würde, wäre das nur die Hand einer Puppe, egal, ob die nun auf dämonische Weise belebt war oder nicht. Nur die Hand einer Puppe.
Molly wischte sich über die feuchten Wangen. »Nehmen sie uns denn wirklich unsere Welt weg?«
»Die Ereignisse weisen darauf hin.«
»Oder ist es bloß die Art und Weise, wie wir die Ereignisse deuten?«
»Ich weiß nicht recht, wie wir sie sonst deuten sollten.«
»Ich auch nicht. Dieses Ding in der Besenkammer …« Molly schauderte.
Sie spürte noch immer den über ihr schwebenden Koloss, und wenn sie ihre Aufmerksamkeit nun zur Decke richtete, konnte sie auch die Bewegung des Drucks wahrnehmen, der südwärts durch den Regen abzog. Offenbar wurde sie immer empfänglicher dafür.
»Aber die Sache mit dem rapiden Terraforming ist Dereks Theorie«, sagte sie, »und dem traue ich nicht.«
»Was ist eigentlich los mit ihm?«, fragte Neil. »Wieso hat er sich dir gegenüber so komisch benommen?«
»Keine Ahnung.«
»Du hast gesagt, vielleicht sei Render nicht nur Render gewesen.«
»Und ich weiß immer noch nicht, was ich damit eigentlich meine.«
»Ist dann auch Derek wirklich Derek, aber nicht nur Derek?«
»Auf jeden Fall stimmt etwas mit ihm nicht.«
Neil rieb sich mit einer Hand den Nacken. »Da muss ich wieder an die Filme mit diesen außerirdischen Parasiten denken.«
»Warum haben die uns dann nicht alle befallen? Warum wird nicht jeder von ihnen kontrolliert?«
»Vielleicht ist es bald so weit.«
Molly schüttelte den Kopf. »Das Leben ist was anderes als Science-Fiction.«
»U-Boote, Atomwaffen, das Fernsehen, Computer, Kommunikationssatelliten, Organtransplantationen – das kam
alles in der Science-Fiction vor, bevor es Wirklichkeit wurde. Und das größte Science-Fiction-Motiv überhaupt ist der Kontakt zu Außerirdischen.«
»Aber wenn es in ihrer Macht steht, einen ganzen Planeten zu verändern, weshalb dann die psychologische Kriegsführung? Sie könnten uns doch einfach zertreten wie Ameisen, was sie offenbar ohnehin schon tun, zumindest in den Großstädten.«
»Du meinst die Puppe und den Spiegel.«
»Und Harry Corrigan, und dieser ganze T.-S.-Eliot-Spuk. Wenn sie unsere ganze Umwelt durch ihre ersetzen könnten, wenn sie die menschliche Zivilisation in wenigen Tagen oder Wochen radikaler auslöschen könnten als ein Atomkrieg auf allen Kontinenten, dann bräuchten sie sich doch keine Mühe zu geben, uns mit solchen Dingen verrückt zu machen.«
Molly kam in den Sinn, wie die Puppe kurz vor ihrer Selbstverstümmelung an die Decke gestarrt hatte. Wieder blickte sie ebenfalls nach oben und fragte sich, ob ihr gesteigertes Wahrnehmungsvermögen für das Ungetüm am Himmel sie wohl empfänglich für seinen Einfluss machte. Womöglich würde sie irgendwann vollständig ihren freien Willen verlieren, die Puppe nachahmen und sich die Augen ausreißen.
»Wir sind nur deshalb nicht schon tot, weil sie für uns irgendeine Verwendung haben«, erkannte sie plötzlich.
»Was für eine Verwendung?«
»Da kann ich mir mehrere Möglichkeiten vorstellen …«
»Ich auch«, sagte Neil.
»Nichts davon hört sich gut an.«
»Erinnerst du dich an den Film Matrix? «
»Jetzt hör mit den Filmen auf! Daran sollen wir zwar offenbar denken, darauf wollen
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