Todesregen
weiter zu bewähren, dann ist das, was von mir bleibt, das Beste und das Schlimmste, was ich bisher getan habe.«
Stirnrunzelnd folgte Neil ihren Schlussfolgerungen, immer einen halben Schritt zurück. »Das Beste … du hast damals das Leben deiner Klassenkameraden gerettet.«
»Er ermordet Kinder. Und ich … ich habe einige gerettet. «
Mit einem bangen Winseln machte der Schäferhund auf sich aufmerksam.
Molly hatte gedacht, der Hund sei nur in ihre Nähe gekommen, um den Boden zu beschnüffeln und um nachzuschauen, ob er eventuell etwas Essbares erbetteln konnte.
Sein Blick war jedoch ungewöhnlich intensiv, ja mehr als das: fremdartig, zwingend.
Sie dachte daran, wie sämtliche Hunde auf sie reagiert hatten, als sie hereingekommen war. Seither hatten sie sie offenbar ständig verstohlen beobachtet.
»Neil, bisher haben wir mehr oder weniger nur an uns gedacht und daran, wie wir überleben können. Wenn wir so weitermachen, bleibt uns nichts anderes übrig, als ein Schlupfloch zu finden, uns dort zu verkriechen und zu warten.«
Er begriff: »Und so hast du nie gelebt; du hast nie passiv darauf gewartet, was als Nächstes geschieht.«
»Du ebenso wenig. In dem Chaos, das heute herrscht, gibt es Kinder, die man nicht so beschützt, wie sie es brauchen, es verdienen.« Sie war erleichtert, nun mit einem Mal ein Ziel und eine dringende, sinnvolle Aufgabe zu haben.
»Und wenn wir sie nicht retten können?«, sagte Neil grüblerisch.
Mit aufgestellten Ohren und schief gelegtem Kopf sah der Hund ihn an.
»Vielleicht kann niemand mehr gerettet werden«, fuhr Neil fort, »wenn tatsächlich die ganze Welt verloren ist.«
Der Hund winselte ihn an, so wie er vorher Molly angewinselt hatte.
Fasziniert von diesem Verhalten, fragte Molly sich, ob wohl etwas Außergewöhnliches geschehen würde, doch dann trottete das Tier davon und war bald zwischen den herumstehenden Grüppchen verschwunden.
»Wenn wir sie nicht retten können«, sagte sie, »dann versuchen wir eben, ihnen so viel Schmerz und Schrecken zu ersparen, wie wir können. Wir müssen uns zwischen sie und das stellen, was auf sie zukommt.«
Neil warf einen Blick auf die sechs Kinder.
»Die meine ich nicht«, sagte Molly. »Ihre Eltern sind hier, und die Gruppe ist groß genug, um sie so gut zu beschützen, wie jemand unter diesen Umständen beschützt werden kann. Aber wie viele Kinder gibt es noch in diesem Ort? Nicht Teenager, sondern jüngere Kinder, die klein und hilflos sind. Einhundert? Zweihundert?«
»Kann schon sein. Vielleicht sogar mehr.«
»Wie viele von ihnen haben Eltern, die mit der Situation so umgehen wie Derek und seine Kumpane – indem sie sich besaufen und ihre verängstigten Kinder ohne jeden Schutz im Stich lassen?«
»Aber wir kennen die meisten Leute hier doch gar nicht«, wandte Neil ein. »Es gibt, sagen wir mal, etwa vier- oder gar fünfhundert Häuser, und wir haben keine Ahnung, wo Familien mit Kindern wohnen. Es würde viele Stunden dauern, vielleicht auch einen ganzen Tag, wenn wir beide ganz allein von Tür zu Tür gehen. So viel Zeit bleibt uns nicht mehr.«
»Na schön, dann können wir vielleicht ein paar von den Leuten hier dazu bringen, uns zu helfen«, sagte Molly.
Neil sah sie zweifelnd an. »Die denken doch nur an sich selbst.«
Molly sah, wie sich der Schäferhund zwischen den Tischen und den diskutierenden Bürgern von Black Lake hindurchwand. Er kam direkt auf sie zu. Im Maul hielt er eine Rose, die er Molly brachte.
Sie konnte sich nicht vorstellen, wo er in der Kneipe eine Rose hatte finden können. Jedenfalls war ihr nirgendwo ein Blumenstrauß aufgefallen.
Offenbar wollte der Hund, dass sie die Rose entgegennahm.
»Du hast einen neuen Verehrer«, sagte Neil.
Unwillkürlich kam ihr in den Sinn, dass ihr Vater in einem Rosengarten einen Jungen ermordet hatte. Seine Stimme schlängelte sich geschmeidig durch die Windungen ihres Gedächtnisse: Seine kleine Einmalkamera habe ich am Fuße eines Rosenbuschs vergraben. Es war die wegen ihres prächtigen Purpurs nach Kardinal Mindszenty benannte Rose.
Da Molly zuerst eine Verbindung zwischen Render und dem Hund für möglich hielt, zögerte sie, die Rose entgegenzunehmen.
Dann sah sie dem Schäferhund in die Augen und erkannte, was man in den Augen jedes Hundes sehen kann, der nicht von einem grausamen Besitzer misshandelt worden ist: Vertrauen, Stärke ohne Arroganz, den Wunsch, Zuneigung zu geben und zu empfangen – und eine so reine
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