Todesreigen
Sie ein Instrument?«
»Ein bisschen Klavier und Gitarre.«
»Könnten Sie sich nach diesem Zwischenfall vorstellen, auch Geige spielen zu lernen?«
»Klar, warum nicht?« Er schaute zu Edouard Pitkin hinüber. Der Musiker warf dem jungen Mann einen Blick zu, als käme er direkt von einem anderen Stern. Williams hielt Pitkins Blick stand und fuhr fort: »Ich hab gesehen, wie Leute Geige spielen, und es macht nicht den Eindruck, besonders schwierig zu sein. Aber das ist natürlich bloß meine Meinung, verstehen Sie.«
»Mr. Williams, eine Frage noch…«
Tony Vincenzo trat hinaus in die Nacht. Der Nebel hatte sich verzogen, und stattdessen hatte endlich der Regen eingesetzt – gleichmäßig und kühl, aber merkwürdig leise. Die Nacht war friedlich. Jean Marie würde längst schlafen, aber er wollte immer noch nach Hause. Ein Bier trinken, eine CD auflegen. Und Tony wusste schon, was er hören wollte. Mozart war gut. Smokey Robinson war besser.
Freispruch erster Klasse
»Diesmal werden Sie verlieren.«
»Werde ich das?«, fragte Staatsanwalt Danny Tribow. Er kippte mit seinem Stuhl zurück und musterte das Gesicht des Mannes, der ihn angesprochen hatte.
Der Angeklagte Raymond Hartman, fünfzehn Jahre älter und zwanzig Kilo schwerer als Tribow, nickte langsam und fügte hinzu: »In allen Anklagepunkten. So einfach ist das.«
Der Mann neben Hartman berührte den Arm seines Mandanten, um ihn zur Zurückhaltung zu mahnen.
»Ah, ein kleiner Sparringskampf macht ihm doch nichts aus«, belehrte Hartman seinen Anwalt. »Er kann das vertragen. Jedenfalls nenne ich die Dinge einfach beim Namen.«
Der Angeklagte knöpfte seine marineblaue Jacke auf, deren Farbe satt und prächtig wie ein nächtlicher Ozean wirkte.
Tatsächlich
machte ein kleiner Sparringskampf Tribow nichts aus. Nicht das Geringste. Der Mann konnte sagen, was er wollte. Tribow würde die Anklage gegen Hartman wegen dessen Arroganz kein bisschen unnachgiebiger verfolgen, genauso wenig, wie er sich zurückgehalten hätte, wenn ihm der Mann tränenüberströmt und zerknirscht gegenübergetreten wäre.
Auf der anderen Seite wollte der fünfunddreißigjährige Karriereanwalt auch nicht auf sich herumtrampeln lassen. Er schaute Hartman fest in die Augen und sagte mit sanfter Stimme: »Nach meiner Erfahrung stellt sich manches, was einer Person ziemlich klar erscheint, nachher als das Gegenteil heraus. Ich bin überzeugt davon, dass die Geschworenen sich meiner Sichtweise anschließen werden. Was bedeutet, dass
Sie
verlieren werden.«
Hartman zuckte die Schultern und warf einen Blick auf seine goldene Rolex. Die Uhrzeit, so vermutete Tribow, war ihm herzlich egal. Er wollte nur einen Nebenschauplatz einführen: Dieses eine Schmuckstück hat so viel gekostet, wie Sie im Jahr verdienen.
Danny Tribow trug eine Casio, und die einzige Aussage, die ein Blick auf diese Uhr andeuten konnte, bestand darin, dass er mit diesem Treffen eine gute halbe Stunde verschwendet hatte.
Neben dem Angeklagten, seinem Verteidiger und Tribow befanden sich zwei weitere Personen in dem Büro, das genauso klein und schäbig war, wie man es bei einem Distrikt-Staatsanwalt erwartet hätte. Zur Linken Tribows saß sein Rechtsreferent, ein gut aussehender Mann in den Zwanzigern namens Chuck Wu, der ein brillanter und gewissenhafter – manche behaupteten zwanghafter – Arbeiter war. Er hatte sich nach vorn gebeugt und tippte Notizen und Beobachtungen über dieses Treffen in den ramponierten Laptop, ohne den man ihn nie zu sehen bekam. Das Tippen war eine Angewohnheit, die auf die meisten Angeklagten völlig entnervend wirkte, Ray Hartman aber anscheinend völlig kalt ließ.
Die fünfte Person war Adele Viamonte, die stellvertretende Staatsanwältin, die seit einem Jahr im Bereich Gewaltkriminalität für Tribow arbeitete. Sie war fast zehn Jahre älter als Tribow. Ihr Interesse für die Justiz hatte sie spät im Leben nach einer erfolgreichen früheren Karriere entdeckt: nach der Erziehung ihrer Zwillingssöhne, die inzwischen im Teenageralter waren. Viamontes Intellekt und Zunge waren so scharf, wie ihre Zuversicht ausgeprägt war. Im Augenblick musterte sie Hartmans gebräunte Haut, den straffen Bauch, das silbrige Haar, die breiten Schultern und den dicken Hals. Dann wandte sie sich an seinen Anwalt und fragte: »Dürfen wir annehmen, dass das Treffen mit Mr. Hartman und seinem Ego hiermit beendet ist?«
Hartman stieß ein leises, gequältes Lachen aus, so als hätte ein
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