Todesreigen
Geister sind tot!«
Eine Woche später saß Harry Bernstein im Wartezimmer des Gefängniskrankenhauses. Er wusste, welchen Anblick er bot. Seit Tagen hatte er sich nicht rasiert, außerdem trug er zerknitterte Kleidung – in der er, genau genommen, die letzte Nacht geschlafen hatte. Er starrte auf den schmutzigen Fußboden.
»Alles in Ordnung mit Ihnen?« Die Frage hatte ein hochgewachsener, dünner Mann mit einem perfekt gestutzten Bart gestellt. Er trug einen prächtigen Anzug und eine Brille mit Armani-Gestell. Er war Patsys Hauptverteidiger.
»Ich hätte nie gedacht, dass sie es tun könnte«, erklärte Harry ihm. »Ich
wusste
, dass ein Risiko bestand. Ich
wusste
, dass etwas nicht stimmte. Aber ich dachte, ich hätte alles unter Kontrolle.«
Der Anwalt warf ihm einen mitfühlenden Blick zu. »Ich habe gehört, dass Sie auch das eine oder andere Problem bekommen haben. Ihre Patienten…«
Harry lachte bitter. »Sie verlassen die Praxis zu Dutzenden. Na ja, würden Sie das nicht auch tun? Park-Avenue-Seelenklempner findet man an jeder Straßenecke. Warum sollte jemand das Risiko eingehen, ausgerechnet zu mir zu kommen? Am Ende könnte er umgebracht werden oder hinter Gittern landen.«
Der Gefängnisbeamte öffnete die Tür. »Dr. Bernstein, Sie dürfen jetzt zu der Gefangenen.«
Er stand langsam auf, wobei er sich am Türrahmen abstützte.
Der Anwalt musterte ihn gründlich und sagte: »Wir sollten uns in den nächsten Tagen treffen und festlegen, wie wir den Fall angehen. Auf Unzurechnungsfähigkeit zu plädieren, ist in New York nicht einfach, aber mit Ihnen an Bord könnte ich es schaffen. Wir werden sie vor dem Gefängnis bewahren… Sagen Sie, Doktor, werden Sie zurechtkommen?«
Harry nickte matt.
Freundlich erklärte der Anwalt: »Ich werde mich darum kümmern, dass Sie ein bisschen Geld bekommen. Ein paar Tausend… als Sachverständigenhonorar.«
»Danke«, sagte Harry. Doch im nächsten Augenblick hatte er das Geld bereits vergessen. Seine Gedanken galten nur noch seiner Patientin.
Der Raum war so kahl, wie er ihn sich vorgestellt hatte.
Mit bleichem Gesicht und eingesunkenen Augen lag Patsy auf dem Bett und schaute aus dem Fenster. Sie warf einen Blick auf Harry, schien ihn aber nicht zu erkennen.
»Wie geht es Ihnen?«, fragte er.
»Wer sind Sie?« Sie runzelte die Stirn.
Auch er ging nicht auf Ihre Frage ein. »Sie sehen gar nicht schlecht aus, Patsy.«
»Ich glaube, ich kenne Sie. Ja, Sie sind… Warten Sie mal, sind Sie ein Geist?«
»Nein, ich bin kein Geist.« Harry stellte seinen Aktenkoffer auf den Tisch. Ihre Augen wandten sich dem Koffer zu, den er öffnete.
»Ich kann nicht lange bleiben, Patsy. Ich schließe meine Praxis. Da muss ich mich um eine Menge Dinge kümmern. Aber ich wollte Ihnen ein paar Sachen bringen.«
»Sachen?«, fragte sie und klang wie ein Kind. »Für mich? Wie an Weihnachten. Wie an meinem Geburtstag.«
»Hm.« Harry wühlte in seinem Koffer herum. »Hier ist das Erste.«
Er nahm eine Fotokopie heraus. »Das ist ein Artikel aus dem
Journal der Psychosen
. Ich habe ihn an dem Abend entdeckt, nachdem Sie mir zum ersten Mal von den Geistern erzählt haben. Sie sollten ihn lesen.«
»Ich kann nicht lesen«, sagte sie. »Ich weiß nicht, wie das geht.«
Sie stieß ein verrücktes Lachen aus. »Ich habe Angst vor dem Essen hier. Ich glaube, hier sind überall Spione. Sie mischen alles Mögliche ins Essen. Eklige Sachen. Und Gift. Oder Glasscherben.« Wieder dieses gackernde Lachen.
Harry legte den Artikel neben sie aufs Bett. Er trat ans Fenster. Hier gab es keine Bäume. Keine Vögel. Nur das Grau des südlichen Teils von Manhattan.
Er drehte sich zu ihr um und sagte: »Es geht um Geister. In dem Artikel.«
Ihre Augen wurden schmal, dann legte sich Angst über ihr Gesicht. Sie flüsterte: »Geister… Gibt es hier Geister?«
Harry lachte schroff. »Sehen Sie, Patsy, die Geister waren der erste Hinweis. Nachdem Sie in der Sitzung von Geistern gesprochen hatten – als Sie behaupteten, Ihr Mann wolle Sie in den Wahnsinn treiben… Ich hatte das Gefühl, dass irgendetwas nicht richtig klang. Also ging ich nach Hause, um wegen Ihres Falles zu recherchieren.«
Sie betrachtete ihn schweigend.
»In diesem Artikel geht es um die entscheidende Bedeutung der Diagnose bei seelischen Krankheiten. Wissen Sie, manchmal wirkt es sich vorteilhaft aus, wenn jemand seelisch instabil
wirkt
– weil er dann nicht zur Verantwortung gezogen wird. Wenn beispielsweise
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