Todesreigen
Shakespeare zu besuchen.«
»Damit bin ich völlig einverstanden, Charles«, sagte Hal, als sie hinaus auf die Straße traten. Flüsternd fügte er hinzu: »Wenn ich allerdings so fest entschlossen wäre, Gott persönlich zu begegnen, wie Ihr es scheinbar seid, würde ich für meinen Teil aufs Vergnügen verzichten und schleunigst in die Kirche eilen, um mit meinen äußerst reuigen Lippen das Hinterteil eines Priesters zu küssen.«
Der Constable, dessen Posten sich gleich am Ufer in der Nähe der Juristenwohnhäuser befand, war mit seinem Leben hier sehr zufrieden. Ja, es gab natürlich Zuhälter, die den Männern auf der Straße aufgetakelte Frauen anboten, und Halsabschneider, Taschendiebe, Betrüger und Schläger. Doch anders als im geschäftigen Cheapside mit seinen Läden voller minderwertiger Waren oder den verrückten Vororten südlich des Flusses war sein Zuständigkeitsbereich überwiegend von hoch stehenden Herren und Damen bewohnt, so dass manchmal ein Tag oder auch zwei ohne einen einzigen Alarm verstrichen.
An diesem Morgen um neun Uhr saß der gedrungene Mann am Tisch in seiner Dienststube und diskutierte mit seinem riesigen Amtsdiener, Red James, über die Anzahl von Köpfen, die augenblicklich auf der London Bridge aufgespießt waren.
»Jede Wette, dass es zweiunddreißig sind«, murmelte Red James.
»Dann habt Ihr verloren, dummer Gänserich, denn Ihr irrt Euch. Es sind auf keinen Fall mehr als fünfundzwanzig.«
»Ich habe sie in der Morgendämmerung gezählt, wirklich, und es waren zweiunddreißig.« Red James zündete eine Kerze an und holte ein Kartenspiel hervor.
»Lasst die Finger von dem Talg«, fuhr der Constable ihn an. »Er kostet Geld und muss von unserem Unterhalt bezahlt werden. Wir spielen beim Tageslicht.«
»Wahrhaftig, mein Herr«, grummelte Red James. »Wenn ich ein Gänserich bin, wie Ihr behauptet, dann kann ich keine Katze sein, und folglich ist es mir auch nicht möglich, im Dunkeln zu sehen.« Er zündete einen zweiten Docht an.
»Wozu taugt Ihr eigentlich, Mann?« Der Constable machte eine obszöne Geste zu seinem Amtsdiener hin und blies die Kerzen aus. In diesem Moment kam ein junger Mann in Arbeitskleidung ans Fenster gelaufen.
»Meine Herren, ich suche den Constable, sofort!«
»Und Ihr habt ihn gefunden.«
»Sir, mein Name ist Henry Rawlings, und ich bin gekommen, um ein Verbrechen anzuzeigen! Ein schwerwiegendes Verbrechen ist in vollem Gange.«
»Was ist Eure Beschwerde?« Der Constable musterte den Mann von oben bis unten. Er wirkte offensichtlich unverletzt. »Ihr scheint mir weder vom Dolch noch vom Knüppel getroffen.«
»Nein, nicht ich bin getroffen, sondern ein anderer
wird
verletzt werden. Und zwar sehr ernstlich, fürchte ich. Ich war auf dem Weg zu einem Lagerhaus am Ufer, nicht weit von hier. Und…«
»Beeilt Euch, Mann. Wichtige Angelegenheiten warten.«
»…und ein Gentleman zog mich zur Seite und zeigte zum Temple Wharf, wo wir zwei Männer sahen, die sich mit Schwertern umkreisten. Ich hörte den Jüngeren der beiden seine Absicht verkünden, den anderen zu töten, der daraufhin um Hilfe rief. Dann nahm das Duell seinen Lauf.«
»Ein Zuhälter, der mit seinem Kunden über den Preis einer Frau streitet«, sagte Red James mit müder Stimme. »Das interessiert uns nicht.« Er mischte die Karten.
»Nein, Sir, so ist es nicht. Einer der beiden – der Ältere und im Duell Benachteiligte – war ein Peer des Königreiches. Robert Murtaugh.«
»Sir Murtaugh, ein Freund des Oberbürgermeisters und Günstling des Herzogs!« Erschrocken sprang der Constable auf.
»Ebenjener«, brachte der Lakai atemlos hervor. »Ich komme in aller Eile zu Euch, um das Verbrechen anzuzeigen.«
»Amtsdiener!«, rief der Constable und legte Schwert und Dolch an.«
»Amtsdiener! Kommt auf der Stelle her!«
Zwei Männer stolperten aus ihren benachbarten Quartieren in die Dienststube. Ihre Sinne waren noch verwirrt von der unseligen Verbindung des morgendlichen Schlafes mit dem Wein des gestrigen Abends.
»Am Temple Wharf ist eine Gewalttat im Gange. Wir gehen unverzüglich dorthin.«
Red James ergriff einen langen Spieß, seine bevorzugte Waffe.
Die Männer hasteten hinaus in den kühlen Morgen und hielten sich südlich in Richtung der Themse, über der Rauch und Nebel so dicht lagen wie das Fell eines Schafes. Nach fünf Minuten hatten sie den Zugang erreicht, von dem aus sie den Temple Wharf überblicken konnten, wo, wie der Lakai versichert hatte, ein
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