Todesreim : Hachenberg und Reiser ermitteln (German Edition)
den mit nach Hause?“
„Natürlich nicht, den leg ich hier oben in die Schublade. Der Betrieb muss ja weitergehen, falls ich einmal krank werde oder aus einem anderen Grund nicht zur Arbeit erscheinen kann.“
„Und das weiß vermutlich jeder hier im Haus?“
Frau Schneider zuckte die Schultern.
„Vermutlich.“
„Ganz schön leichtsinnig.“
Frau Schneider reagierte erbost:
„Wir vertrauen unseren Mitarbeitern. Wir sind hier in Heiligenburg und nicht in New York oder Chicago oder wo auch immer die Verbrecher sind.“ So viel Naivität machte ihn sprachlos. Es war nicht seine Aufgabe, ihr die Illusion nach zwei begangenen Morden, einem versuchten Mord, Drogenhandel, Entführung und Brandstiftung zu nehmen, dass in Heiligenburg eine Atmosphäre der friedlichen Eintracht herrschte. „Und außerdem“, ihre Stimme klang jetzt kämpferisch, „wenn ich abends gehe, wird die Vordertür abgeschlossen. Nur die Bewohner und Mitarbeiter haben einen Schlüssel.“
Reiser versuchte das Thema zu wechseln.
„Eine andere Frage, Frau Schneider. Hat Ihre Residenz irgendeine Verbindung zu dem Fitness-Studio BFit in Heiligenburg?“
Ihre Antwort verblüffte ihn, hätte er doch damit überhaupt nicht gerechnet.
„Also, eine direkte Verbindung würde ich jetzt nicht behaupten. Aber ab und zu kommt Charlottes Freundin vorbei und trainiert die alten Leutchen ein wenig. Nichts Dolles, mehr so spielerisch. Sie haben so viel Spaß dabei. Annabell heißt sie, und soviel ich weiß, arbeitet sie auch im BFit. Nettes Mädel. Sie arbeitet hier ehrenamtlich, doch ich könnte mir vorstellen, dass die Leutchen ihr hier und da etwas zustecken. Das ist auch völlig in Ordnung. Sie macht das ganz hinreißend.“ Das erste Lächeln huschte über ihr Gesicht, dann wurde sie wieder ernst. „Stimmt es, dass es ihre Mutter ist, die entführt wurde? Armes Ding.“
Reiser ging auf die Frage nicht ein und er hatte auch nicht das Gefühl, als ob sie eine Antwort erwartete. Er bedankte sich für das Gespräch und gerade, als er gehen wollte, fiel ihm noch eine Frage ein:
„Die Autos, wurden die immer vollgetankt zurückgebracht?“
„Nein, um Gottes willen, dafür haben die Pfleger weiß Gott keine Zeit. Wissen Sie eigentlich, was das für ein harter Job ist, Altenpflege? Und wie wenig Zeit ihnen für jeden einzelnen Patienten bleibt? Nein, wenn der Tank leer ist, dann wird getankt, aber nicht täglich.“
D as leise Surren der Monitore, die hastigen Schritte der Schwestern und die gedämpften Stimmen auf dem Flur vernahm sie nur am Rande, denn ihre volle Aufmerksamkeit galt dem Mann im Krankenhausbett. Sein Kopf, seine Beine und Arme waren dick einbandagiert und erinnerten ein wenig an die Mumie aus dem gleichnamigen Horrorfilm. Gleichmäßig pumpte das Beatmungsgerät den Sauerstoff in seine Lunge. Sie beobachtete fasziniert, wie sich sein Brustkorb ruhig im stillen Rhythmus hob und senkte. Es erzeugte eine Art hypnotische Wirkung und sie merkte, wie die Spannung, die sie seit Tagen in sich fühlte, ganz langsam von ihr wich.
Niemand hatte sie beachtet, als sie wie selbstverständlich die 2. Etage des Krankenhauses betreten hatte. Langsam war sie den lichtdurchfluteten Flur entlang gegangen, hatte den eifrigen Schwestern freundlich zugenickt, die ihr jedoch keinerlei Aufmerksamkeit gezollt hatten. Sie sah aus wie eine von ihnen. Und nun stand sie vor seinem Bett. Wie hatte sie sich nur so täuschen können? Sie war so sicher gewesen, dass er tot war. Doch da lag er. So schwer verletzt, dass es durchaus möglich wäre, dass er doch noch diese Welt verließ. Aber es gab auch diese eine kleine Sorge, dass er es vielleicht überleben würde. Sie trat an sein Bett. Es wäre ein leichtes, das Beatmungsgerät abzuschalten, doch es erschien ihr zu einfach. Er würde nicht leiden, er würde einfach so einschlafen. Er sollte es wissen, wissen, dass er sterben würde. Sie beugte sich zu ihm herunter und flüsterte:
„Jetzt werde erst einmal wieder richtig gesund. Und dann, Phillip, komm ich wieder. Vielleicht in einem Monat, vielleicht in einem Jahr oder vielleicht noch später. Ich sage dir rechtzeitig Bescheid, damit die Angst bei dir ist, so wie die Angst uns all die Jahre begleitet hat.“
Sie nahm seine rechte Hand und umschloss den Zettel vorsichtig mit seinem Finger. Keine Bewegung deutete darauf hin, dass Phillip sie wahrgenommen oder etwas gefühlt hatte. Ein letzter Blick, dann drehte sie sich zur Tür, um das Zimmer zu verlassen.
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