Todesreim : Hachenberg und Reiser ermitteln (German Edition)
Jahr, hielt sie engumschlungen auf dem Schoß. „Es sind Drillinge“, ergänzte sie.
„Mama, bitte“, sprach Sebastian ungewohnt ernst. „Das gehört doch jetzt nicht hier hin.“
Simon blickte in Sebastians traurige Augen.
„Das sind Sie und Ihre Schwester Charlotte, nicht wahr? Wie heißt das andere Mädchen?“ Aber etwas anderes hatte Simons Interesse geweckt. Auf dem Foto trug Theresa goldene Ohrstecker, die dem am Tatort gefundenen Schmuckstück bis ins kleinste Detail glich. Sebastian antwortete nicht.
„Sie hieß Sophie“, schluchzte Theresa laut. Sie nahm Simon den Bilderrahmen aus der Hand und streichelte sanft über das Glas. „Sie hat sich das Leben genommen. Und niemand weiß, wieso. Da war sie sechzehn.“
Betroffen blickten die Kommissare sich an. Sie dachten beide dasselbe: Sophie.
Wortlos reichte Simon Sebastian Witt das Gedicht, das sie bei Annabell gefunden hatten. Mit versteinertem Gesicht begann er zu lesen, erst leise, dann noch einmal laut:
„Meine Angst, in deine Augen zu blicken,
unbeabsichtigt dir Zeichen zu schicken.
Dir nicht die Wahrheit sagen zu können,
meinem Herzen keine Ruhe zu gönnen,
bringt mich bald zum Ende meiner Reisen,
auch wenn es niemand wird beweisen,
so werd ich dich als Freundin doch verlieren,
das kann ich niemals akzeptieren.
Ich wart auf dich an Sophies Grab,
an diesem heißen Sommertag.
Hab keine Furcht, ich bin bereit.
Sie ist gekommen, meine Zeit.“
„Hat das Annabell geschrieben?“, fragte Sebastian leise.
„Das wissen wir nicht, Herr Witt. Wir haben es in ihrem Zimmer gefunden.“
Aus Theresas Kehle entwich ein markerschütternder Schrei, so voller Leid und Schmerz, wie ihn Simon selten gehört hatte. Erschreckt schauten die drei Männer sie an. Ihr Gesicht schien um Jahre gealtert. Bestürzt und verängstigt nahm Sebastian Witt seine Mutter in die Arme.
„Charlotte“, sprach sie heiser die Worte aus, „Charlotte hat dieses Gedicht geschrieben. Ich fühle das.“ Voller Angst zog sie an Simons Ärmel. „Bitte, lassen Sie mein Kind nicht sterben.“
U m die rastlose Unruhe, die die neue Bewohnerin schon den ganzen Tag verspürte, in positive Energie umzuwandeln, wirbelte sie in ihrem Häuschen allerlei Staub auf. Einige kleinere Möbelstücke, die den Zenit des Brauchbaren längst überschritten hatten, trug sie bis an die Straße, damit sie am nächsten Morgen durch den Sperrmüll entsorgt wurden. Danach saugte und schrubbte sie die Böden, wischte die Kacheln ab, polierte die Möbel und verrückte alle Gegenstände, die sich ihr in den Weg stellten. Bis sie vor Erschöpfung in den alten Schaukelstuhl ihrer Großmutter plumpste und die Augen schloss.
Die tiefstehende Sonne war hinter den Bäumen verschwunden und ein Dämmerlicht hatte sich wie ein vergilbtes Tuch über das Haus gelegt, ohne dass sie etwas davon bemerkte. Eine unnatürliche, gespenstische Stille hatte sich unvermittelt in der Wohnstube ausgebreitet. Nur das leichte Knarzen des Schaukelstuhls – Molly hatte ihn ganz unbewusst, wie sie es auch früher schon immer getan hatte, in Schwingung gebracht – war zu vernehmen.
„Molly, Molly“, hörte sie auf einmal die leise liebevolle Stimme ihres Gatten Eduard, „du musst langsam zum Ende kommen.“
„Josefine, mein liebes Kind“, raunte es plötzlich in einer wesentlich resoluteren Stimmlage, „du musst dich sputen, sonst ist es zu spät, viel zu spät.“ Molly seufzte. So viele Jahre hatte sie diese Stimme schon nicht mehr vernommen.
Eine dritte Stimme mischte sich ein:
„Tante Josefine, finde meinen Mörder, finde ihn endlich!“
Von allen Seiten hörte sie ein immer lauter werdendes, aufgebrachtes Tuscheln, Wispern und Flüstern, das zu einer ohrenbetäubenden Sinfonie anschwoll.
„Molly, Josefine, Tante Josefine, Molly Jo! Denk an das Puzzle!“
Entsetzt hielt sie sich die Ohren zu. Verwirrt öffnete sie die Augen und sprang mit einem Ruck aus dem Schaukelstuhl. Das Puzzle. Viel zu lange hatte sie gezögert. Sie musste sich jetzt endlich mit den gesammelten Puzzleteilchen beschäftigen, sie musste ihr Versprechen wahrmachen und Christophs Mörder finden.
Aufgeregt schnappte sie sich den Schuhkarton, der seit ein paar Tagen auf der Kommode stand, und verschwand damit in die Küche. Sorgfältig leerte sie den Inhalt auf den blank polierten Holztisch und begann, die einzelnen Gegenstände zu sortieren: die Zeitung aus Christoph’s Schreibtisch mit der Todesanzeige von Sophie Witt, einen
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