Todesreim : Hachenberg und Reiser ermitteln (German Edition)
Menschenmögliche tun würde, dich von diesem schrecklichen Vorhaben abzuhalten. So viele Jahre habe ich gebraucht, dein Rätsel zu entschlüsseln. Du hast es mir nicht leicht gemacht. Wie viele deiner Gedichte musste ich immer und immer wieder lesen, um zu begreifen, was dir angetan wurde.“
Tränen und der wieder einsetzende Regen verschleierten ihr den Blick. Sie hatte die Nacht auf dem Friedhof verbracht, niemand hatte sie gestört oder wahrgenommen. Sie wartete.
„Hier ist es, Sophie. Hier ist dein Tagebuch, gefüllt mit Rätseln, mit Gedichten und Geschichten deines kurzen Lebens. Ich gebe es dir zurück.“
Sie bückte sich und begann mit bloßen Händen, ein Loch direkt neben der Grabplatte zu buddeln. Die vom Regen aufgeweichte Erde fühlte sich nass und schwer an. Der Dreck sammelte sich unter ihren Fingernägeln. Doch das bekümmerte sie nicht. Immer weiter umschlossen ihre Hände die feuchte Erde, bis sie plötzlich innehielt. Sie wusste, dass sie gekommen war. Ohne sich umdrehen zu müssen, spürte sie ihre Nähe.
„Du bist gerade zum richtigen Zeitpunkt gekommen, Annabell.“ Sie hob das kleine Büchlein in die Höhe. „Schau hier, Liebste. Das hier ist Sophies Vermächtnis. Der Gerechtigkeit ist genüge getan, Annabell. Das Rätsel, das sie mir hinterließ, ist gelöst. Er ist tot, somit gebe ich ihr Buch an sie zurück. Verstehst du das?“
Ganz langsam, wie in Zeitlupe, drehte sich Charlotte zu ihrer Freundin um. In deren glänzenden Augen erkannte sie ihre eigene tiefe Trauer und Verzweiflung, die sie umgab. Charlotte fühlte die Nässe in ihrem Gesicht. Ihre Tränen vermischten sich mit dem Dreck zu einer klebrigen Masse.
„Es sind Gedichte, Annabell“, schluchzte sie jetzt laut auf. „Alles verdammte Gedichte.“
Wütend schleuderte sie das Buch in das Erdloch. Nasser Dreck spritzte hoch und beschmutzte ihre Jeans. Ihre Schultern bebten, als der Weinkrampf sie übermannte.
Annabell trat vorsichtig einen kleinen Schritt auf sie zu und schlang ihre Arme um ihre schluchzende Freundin. Charlotte klammerte sich an sie, als würde sie ertrinken.
„Ich musste es tun.“ Ihre Worte waren kaum zu verstehen. Charlotte hob langsam den Kopf. Der Ausdruck in Annabells Augen verriet deren Verwirrung.
„Erkläre es mir, Lotte. Ich verstehe es nicht.“
Unbändiger Zorn stieg in dem verzweifelten Mädchen hoch.
„Du kannst doch froh sein, dass er tot ist, Anna. Er hat deine Mutter gefickt und sie dabei auch noch fotografiert. Er war ein Schwein!“
Annabell zuckte bei diesen Worten zusammen. Entsetzt hielt sie ihre Hand vor den Mund, so als ob ihr übel wurde, und sie schien zu begreifen, dass ihre Befürchtungen sich bewahrheitet hatten. Hatte sie noch immer gehofft, einem Irrtum erlegen zu sein?
„Aber das Verhältnis mit meiner Mutter hat doch nichts mit dir zu tun, Lotte.“
Zornig packte Charlotte Annabell an den Armen und umschloss sie mit unbändiger Kraft. Diese stöhnte, aufgrund der Hämatome, die Rainer Hoffstedt an ihren Oberarmen hinterlassen hatte, vor Schmerzen auf. Unsanft drückte Charlotte sie auf Sophies Grab.
„Er hat auch Sophie gefickt, Annabell. Er hat sie entjungfert und dann fallen gelassen wie ein Stück Dreck. Kannst du mir folgen? Deshalb liegt sie jetzt in der Erde, verstehst du?“ Die Stimme klang verzerrt.
Annabells Blick offenbarte ihr, was sie in diesem Augenblick dachte. Ich bin ihr fremd. Sie erkennt nicht mehr die vertraute Person in mir, mit der sie so lange befreundet war. Und ich sehe die Angst, die in ihr hochkriecht. Sie hält mich für verrückt , schoss es ihr durch den Kopf. Mit dem Rücken auf dem Grabstein lag ihre beste Freundin ausgestreckt, ihre Beine und Arme im Schmutz, und starrte sie furchtsam und konfus an. Auch in Charlottes Kopf dröhnte die Angst. Sie konnte nicht mehr klar denken. Die Müdigkeit überrollte sie.
„Meine wunderschöne Sophie“, sprach sie weiter, „hat mir dieses Buch hier, voller rätselhafter Reime, hinterlassen. Zuerst dachte ich, es wären einfach nur Gedichte, doch je öfter ich sie las, umso bewusster wurde mir, dass sie mir etwas Wichtiges erzählen wollte.“
Charlotte reckte den Kopf in die Höhe, stellte sich in Position, wie ein Theaterschauspieler auf der Bühne, und begann mit monotoner, tragischer Stimme zu sprechen:
„Das Glück umarmt mich wie ein Schleier,
leicht transparent und schwerelos.
Mein Leben ist unendlich freier,
nicht traurig und nicht hoffnungslos.
Die Liebe hält mich
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