Todesreim : Hachenberg und Reiser ermitteln (German Edition)
Streich wohlgesonnen. Ihre Eltern und Großeltern ertrugen sie mit liebevoller Gelassenheit, mahnten zur Mäßigung und ließen sie gewähren.
„Karl, was geht hier vor sich?“ Vorsichtig führte sie den alten Mann den Kiesweg hinauf. Sein Atem ging schwer. Die kleinen Steinchen knirschten unter ihren Schuhen und erschwerten den Weg zusätzlich. Wenig erinnerte an den jungen Mann von damals, der immer über ihre Streiche lachen konnte, mit ihr – obwohl sie ein Mädchen war – Fußball gespielt und sie, und das war ihr allergrößtes Glück, auf seinem Moped mit ins Dorf genommen hatte. Stolz hatte sie ihre kleinen pummeligen Arme um seinen Körper geschlungen, ihre langen Zöpfe waren im Wind geflogen, als die Herkules mit laut knatterndem Motor die Straße entlang gekurvt war.
„Komm, wir setzen uns auf die Terrasse. Dort ist es schattig und kühl und es nimmt uns den Blick von …“ Welches Wort wäre passend und weniger schmerzhaft? , überlegte sie. Baustelle, Abriss, Erinnerungen? Sie wusste es nicht, deshalb sagte sie nur: „Setz dich, Karl, ich hole uns nur schnell eine leckere kalte Zitronenlimonade, und dann erzählst du mir alles.“
Flink eilte sie in die angrenzende Küche, schnappte sich im Vorbeigehen zwei Gläser aus dem alten Holzschrank in der Ecke, öffnete mit der freien Hand den Kühlschrank und entnahm die Karaffe mit der selbstgemachten Limonade. Köstlich , dachte sie, als sie die Limettenscheiben und Blätter aus Minze betrachtete, die sie kurz vorher der Limonade beigefügt hatte. „Genau das richtige bei dieser Affenhitze“, murmelte sie und schlug mit ihrem Ellenbogen resolut die Tür hinter sich zu.
„Da bin ich wieder“, bemerkte sie unnötigerweise, doch Karl lächelte sie mit strahlenden Augen an.
„Warum hat es so lange gedauert, Molly?“, fragte er und natürlich wusste sie, dass er nicht ihren Gang zur Küche meinte. Molly schüttelte ihren Kopf. Der nicht allzu ordentlich frisierte Dutt löste sich und ihr langes Haar breitete sich wie ein Fächer über ihre Schultern aus.
„Das erzähle ich dir ein anderes Mal, Karl.“ Plötzlich, mit diesen wenigen Worten, wusste sie, dass sie eine Entscheidung getroffen hatte. Sie würde bleiben, hier in diesem Haus, sie würde es auf jeden Fall versuchen. „Wie mir scheint, müssen wir ganz andere Probleme lösen, nicht wahr, Karl?“
Sie saßen viele Stunden beisammen und Molly begann zu begreifen, welch Unheil über diese Stadt hereingebrochen war. Karl erzählte ihr von dem zweiten toten Jungen, den er am Abend zuvor baumelnd an einer Eiche, nur wenige Schritte von diesem Haus entfernt, gefunden hatte. Er erzählte ihr von Christoph und seinem unermüdlichen Einsatz bei der Bürgerinitiative und er erzählte ihr von Hubert, von der Macht, die von ihm ausging und viele Menschen ins Verderben gestürzt hatte. Molly hörte aufmerksam zu. Ihr alter Freund aus Kindertagen war fest der Überzeugung, dass Hubert Stein hinter diesen furchtbaren Morden steckte. War es wirklich so? , fragte sie sich zweifelnd. Sie rief sich sein Gesicht in Erinnerung und das Gefühl, das sie empfunden hatte, als sie ihm begegnete. War es das Gesicht eines Mörders gewesen, in das sie geblickt hatte? Sie wusste es nicht, aber sie wusste mit Bestimmtheit, dass in dieser Familie schon seit vielen Jahrzehnten das Böse schlummerte. Das Böse versteckt sich überall. Hinter jeder Fassade, hinter jedem Baum, hinter jedem Gesicht könnte es lauern, um dich zu verletzen. Ja, Molly wusste das. Allerdings war sie nicht mehr die junge naive Frau von damals, die Hals über Kopf das Weite gesucht hatte, um den Dämonen zu entfliehen. Viele Jahre waren vergangen, aber jetzt war sie hier und sie würde bleiben und sich den Geistern der Vergangenheit stellen.
Erschöpft beendete Karl seine Erzählungen und Molly erhob sich und sagte mit sanfter Stimme:
„Komm, Karl, ich fahre dich nach Hause. Es ist zwar kein Moped, aber du wirst sehen, ich fahre einen heißen Schlitten.“
„ W arum haben Sie sich vom Tatort entfernt, Herr Witt?“ Reisers Stimme klang rau, als er die Befragung des Zeugen Sebastian Witt eröffnete.
„Das habe ich Ihnen doch schon am Samstag erzählt. Ich habe Panik bekommen. Ich stand unter Schock, konnte einfach keinen klaren Gedanken mehr fassen. Das ganze Wochenende war ich fix und fertig. Ich habe meinen besten Kumpel verloren …“, Sebastians Stimme zitterte, „… und ich habe dem Enzo nichts getan, das war ich nicht.“
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