Todesreim : Hachenberg und Reiser ermitteln (German Edition)
und verließ so schnell sie konnte den Platz ihrer größten Trauer.
Es hatte leicht zu regnen begonnen und die Dunkelheit und der Nebel erschwerten ihr den Weg zurück ins Leben.
Möchtest du dort überhaupt wieder hin, zurück in dein Leben, möchtest du nicht viel lieber hier bleiben, bei dem Menschen, der das wichtigste in deinem Leben war? Ruhe finden, wieder eins sein. Nein, ich will leben. Bitte lass mich leben. Ganz in Gedanken versunken bog die Gestalt um die Ecke, und plötzlich wie aus dem Nichts sah sie ein schwaches hüpfendes Licht auf sich zukommen. Der Schreck fuhr ihr in alle Glieder und sie schrie leise auf. Das Licht näherte sich tänzelnd ihrem Gesicht und blendete sie so sehr, dass sie niemanden und nichts erkennen konnte.
„Guten Abend“, sagte eine Stimme freundlich, „ich kenne Sie. Noch so jemand, der so verrückt ist wie ich, bei diesem furchtbaren Wetter auf den Friedhof zu gehen. Aber ich wollte meiner Maria nur eben gute Nacht sagen. Und was machen Sie hier? Haben Sie auch jemandem gute Nacht gewünscht?“
Der alte Mann mit der Taschenlampe in der einen Hand und dem Stock in der anderen Hand erkannte die unendliche Trauer im Gesicht seines Gegenübers und senkte betroffen die Lampe zu Boden.
„Es tut mir leid, ich wollte Sie nicht erschrecken, kommen Sie, wollen Sie ein Stück mit mir zusammen gehen. Das wäre sehr nett, denn bei diesem Wetter ist es in meinem fortgeschrittenen Alter sehr beschwerlich und mit so viel Nebel habe ich auch gar nicht gerechnet.“
Der Alte drehte sich ohne ein weiteres Wort um und ging mit kleinen vorsichtigen Schritten dem Ausgang entgegen. Das Licht der Lampe flackerte unruhig. Unschlüssig starrte die Gestalt ihm nach, nicht wissend, ob sie dem alten Herrn folgen oder sich leise aus dem Staub machen sollte.
„Kommen Sie, wir trinken noch ein nettes Gläschen Wein bei uns in der Stube, das wird Ihnen guttun, kommen Sie.“
Die Gestalt lächelte und setzte sich ganz langsam in Bewegung.
Unbemerkt von den beiden Gestalten, die einträchtig zum Friedhofstor hinausschritten, hatte eine dritte Person das Zusammentreffen der beiden Friedhofsbesucher mit neugierigen Augen verfolgt. Ein dunkles Tuch über ihre Haare gezogen, stand sie reglos hinter einem alten breiten Eichenstamm. Auch sie war gekommen, um nach einer bestimmten Grabstelle zu schauen, viele Jahre hatte sie diese schon nicht mehr besucht.
Als sie wenige Minuten zuvor durch die stillen Gräber geschritten war, hatte sie die friedliche und märchenhafte Stimmung an diesem besonderen Ort genossen. Der wallende Nebel, das fast lautlose Flattern der Fledermäuse in der Dämmerung, das leichte Rauschen der Bäume, hier fühlte sie sich eins mit all ihren lieben Verstorbenen – bis sie plötzlich ein leises verzweifeltes Schluchzen hörte und schemenhaft eine dunkle Gestalt zusammengekauert auf einer Grabplatte liegen sah. Vorsichtig zog sich die Beobachterin hinter das undurchsichtige Dickicht der Sträucher zurück. In seiner tiefen Trauer sollte niemand gestört werden. Bevor sie sich jedoch umdrehen konnte, um heimlich in die entgegengesetzte Richtung zu verschwinden, richtete sich die trauernde Person auf, murmelte einige unverständliche Worte vor sich hin und huschte durch die einsamen Gräber zurück zum Friedhofstor. Von der Anwesenheit einer weiteren Person schien sie nichts bemerkt zu haben. Diese wurde jedoch inzwischen von einer drängenden Neugierde überwältigt und so war sie mit kleinen geräuschlosen Trippelschritten zu der verlassenen Grabstelle hingeschlichen. Nachdem sie die Inschrift auf dem Stein gelesen hatte, hatte sie die unauffällige Verfolgung der Davoneilenden aufgenommen und hinter der großen Eiche am Haupteingang Schutz gefunden.
Kaum merklich hatte sich die Stimmung auf dem Friedhof verändert. Eine bedrückende Dunkelheit legte sich über die Gräber, der Nebel hatte sich zu einer zähen undurchdringlichen Masse verdichtet. Unheilvoll tönte der Ruf eines Käuzchens durch die bleierne Stille.
W ie schon häufiger in den letzten Tagen saß Molly Jo Hazelwood auf der Eckbank in der gemütlichen Wohnküche ihres ehemaligen Elternhauses bei einer duftenden Tasse starken englischen Tees. Vor ihr auf dem Tisch lag aufgeschlagen eine regionale Tageszeitung. Doch ihr Blick konzentrierte sich nicht auf die geschriebenen Zeilen. Sie ließ ihre Gedanken noch einmal die vielen Geschehnisse und Eindrücke, die wie ein heftiger Gewitterregen auf sie herabgeprasselt
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