Todesreim : Hachenberg und Reiser ermitteln (German Edition)
zufuhr. Er bemerkte, wie Viktoria kurz innehielt und für den Bruchteil einer Sekunde zögerte, weiterzugehen. Gespannt beobachteten er und Simon, wie sich das Auto und die blonde große Frau fast wie in Zeitlupe Meter für Meter näherkamen.
„Das ist Rainer Hoffstedt“, flüsterte Simon ihm zu, obwohl es gar keinen Grund gab, leise zu sprechen. „Der Kerl am Steuer.“
„Ja, und Annabell sitzt neben ihm.“ Der Blick in den Fond des Autos war ihnen verwehrt, doch sie wussten beide, dass Julian dort mit einer Pistole am Hals bedroht wurde und in großer Gefahr schwebte. Als der Kombi vor Viktoria abbremste und mit laufendem Motor vor ihr stehenblieb, ging sie um das Auto herum und verharrte für einen kleinen Moment an der Beifahrertür. Sie sahen, wie Annabell im Inneren des Autos ganz leicht ihre Hand hob und gegen die Scheibe drückte. Sie versuchte zu lächeln, doch es gelang ihr nicht. Viktoria nahm beide Plastiktüten in die linke Hand und legte ihre rechte genau an die Stelle, an der sich Annabells Hand befand. Dann ging sie zur hinteren Tür, öffnete sie und stieg ein. Genau in diesem Moment stieg Annabell aus und rannte, als ob der Teufel hinter ihr wäre, um ihr Leben.
H ubert stand verwundert und irritiert im Wohnzimmer. Meist verließ er das Bett erst gegen Mittag, doch heute nach nur vier Stunden Schlaf konnte er nicht mehr einschlafen. Eine unerklärliche Unruhe hatte ihn erfasst und aus dem Bett getrieben. Im Haus war alles ruhig. Das allein war nichts Ungewöhnliches, denn seine „Damen“ verließen es oft vor ihm. Was ihn jedoch verwunderte, war die Tatsache, dass weder sein Kaffee noch die Tageszeitung für ihn bereitstand. War Viktoria krank? Er stieg wieder die Treppe zum Obergeschoss hinauf und öffnete leise die Tür zum Gästezimmer. Das Bett war leer. Er stutzte, es war ungemacht, die Wäsche zerwühlt. Viktoria verließ niemals ihr Heim, ohne nicht vorher das Gästezimmer wieder in seinen ursprünglichen Zustand zu verwandeln. Die Gefahr eines unerwarteten Besuches war immer gegeben und auch vor Annabell wollte sie die Tatsache verheimlichen, dass sie nur noch selten im ehelichen Bett nächtigte. Beunruhigt zog er die Tür zu und stand nachdenklich im Flur. Viktoria musste das Haus überstürzt verlassen haben, das war ihm bewusst, aber warum?
Langsam stieg er die kleine Wendeltreppe empor, die zu Annabells Zimmer direkt unter dem Dach führte. Er ging selten hier hinauf, nicht unbedingt aus dem Grund, weil er Annabells Privatsphäre respektierte, sondern weil es ihn nicht sonderlich interessierte, was sie in ihrem Zimmer machte. Annabell bereitete ihm keine Probleme. Sie war, soviel er wusste, eine gute Schülerin gewesen. Nach dem Abitur hatte er sie, auf eigenen Wunsch, für ein Jahr in die USA geschickt. Jetzt ein halbes Jahr nach ihrer Rückkehr musste er sich eingestehen, dass er keine Ahnung hatte, was seine Tochter für berufliche Pläne hatte. In dem einzigen Gespräch, das sie in letzter Zeit geführt hatten, war es einzig und allein darum gegangen, dass sie sich nebenbei etwas Geld verdienen sollte, da er nicht bereit war, ihr Nichtstun zu finanzieren. Zaghaft klopfte er an ihre Tür.
Keine Antwort.
Ein weiteres Mal klopfte er ein wenig lauter und rief gleichzeitig:
„Annabell? Bist du wach?“
Wieder keine Antwort.
Er drückte die Türklinke und öffnete vorsichtig die Tür. Annabell bewohnte eines der hübschesten Zimmer des Hauses, direkt unter dem Dach gelegen mit der Dachschräge bis hin zum First. Dunkle Balken zierten die schrägen Wände, eine riesige Fensterfront erlaubte den Blick auf einen geräumigen Balkon, von wo aus man direkt in den Wald blickte. Doch der Anblick des Zimmers überwältigte ihn aus einem ganz anderen Grund. Kleidungsstücke, Schuhe, Bücher, Zeitschriften, er erkannte auch diverse Abfälle, lagen verstreut auf dem Parkettfußboden, den man als solchen allerdings nicht mehr erkennen konnte. Er bahnte sich einen Weg durch das Chaos und erreichte das große Doppelbett, auf dem sich das Durcheinander nahtlos fortsetzte.
Meine Tochter ist ein Messie , dachte er und fühlte unbändige Wut in sich aufsteigen. Wieso sorgt Viktoria hier nicht für Ordnung? Das ist doch schließlich ihre Aufgabe .
Annabell war nicht da. Er verließ das Zimmer, knallte wütend die Tür hinter sich zu und stieg die Treppen hinab zurück in die Küche, um sich den Kaffee zu kochen, den er jetzt dringendst benötigte. Snowball, Viktorias weiße Perserkatze,
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