Todesrennen
mich heute Morgen zu ihm gelassen. Seine Augen waren offen, und ich glaube, dass er mich erkannt hat … ach Josephine, ich muss Sie etwas fragen.«
»Was?«
»Sehen Sie sich mal die Verstrebungen an den Tragflächen an.«
»Was ist damit?«
»Ist Ihnen aufgefallen, dass sie dreieckig zusammenlaufen, mit einer Mittelstütze und zwei Stäben oben und unten?«
»Natürlich.«
»Ist Ihnen auch aufgefallen, dass die Dreiecke im Grunde ein leichtgewichtiges stählernes Fachwerk bilden? Der Punkt, der über den Flügel hinausragt, ist eigentlich die Spitze der breiten Basis, die unterhalb des Flügels verläuft.«
»Natürlich. Auf diese Art und Weise ist die Verbindung sehr solide.«
»Und haben Sie auch gesehen, wie geradezu genial sie mit dem Chassis verbunden ist?« Sie bückte sich neben ihm, und gemeinsam betrachteten sie eingehend die starken x-förmigen Verstrebungen, die den Korpus des Aeroplans mit den Kufen und den Rädern verbanden.
»Ist es nicht das gleiche System wie bei Ihrer Celere?«, fragte Bell.
»Es sieht ähnlich aus«, gab sie zu.
»So etwas habe ich noch bei keinem anderen Eindecker gesehen. Ich muss Sie daher fragen, ob es möglich ist, dass Marco Celere seine Neuerung – die die Tragflächen verstärkt – von Di Vecchio, sagen wir, ›ausgeliehen‹ hat?«
»Absolut nicht!«, wehrte Josephine heftig ab.
Bell bemerkte, dass die gewöhnlich so ausgelassene und fröhliche Aviatrice von seiner offenen Beschuldigung tief getroffen wurde. Sie richtete sich ruckartig auf. Ihr Lächeln war jetzt so erloschen wie eine Kerze, die ausgeblasen worden war. Dafür röteten sich ihre Wangen. Vermutete sie, ja, fürchtete sie vielleicht, dass es doch zutraf?
»Oder könnte Marco, vielleicht völlig unbewusst, diese Technik kopiert haben?«, fragte er sanft.
»Nein.«
»Hat Marco Ihnen gegenüber jemals erwähnt, dass er für Di Vecchio gearbeitet hat?«
»Nein.«
Dann, seltsamerweise, lächelte sie wieder. Selbstgefällig, dachte Bell. Und er fragte sich, weshalb. Jegliche Anspannung war aus ihrer Haltung gewichen, und sie stand wieder auf ihre unternehmungslustige Art da, als wollte sie jeden Moment zu irgendeinem Abenteuer aufbrechen.
»Hat Marco niemals angedeutet, dass er für Di Vecchio gearbeitet hat?«
»Di Vecchio hat für Marco gearbeitet«, erwiderte sie, was ihr Lächeln erklärte. »Bis Marco ihn hinauswerfen musste.«
»Ich habe gehört, es sei andersherum gewesen.«
»Dann haben Sie etwas Falsches gehört.«
»Vielleicht habe ich es auch nur missverstanden. Hat Marco Ihnen erzählt, dass Di Vecchios Tochter ihn im vergangenen Jahr mit einem Messer angegriffen hat?«
»Diese verrückte Frau hätte ihn beinahe getötet. Sie hat eine schlimme Narbe auf seinem Arm hinterlassen.«
»Hat Marco Ihnen erzählt, weshalb?«
»Natürlich. Sie war eifersüchtig. Sie wollte ihn heiraten. Aber Marco hatte kein Interesse an ihr. Mehr noch, er erzählte mir, dass ihr Vater sie dazu drängte – in der Hoffnung, Marco würde ihn dann wieder einstellen.«
»Hat Marco Ihnen auch erzählt, dass sie ihn beschuldigt hat, ein Dieb zu sein?«
Josephine sagte: »Diese arme Irre. All dieses Gerede, er habe ihr das Herz gestohlen. Sie ist völlig verrückt. Deshalb haben sie sie auch eingesperrt. Das alles hat sich nur in ihrem Kopf abgespielt.«
»Ich verstehe«, sagte Bell.
»Marco hat nichts für sie empfunden. Niemals. Das kann ich Ihnen garantieren, Mr. Bell.«
Isaac Bell überlegte kurz. Er glaubte ihr nicht, aber um ihr Leben schützen zu können, musste Josephine Vertrauen zu ihm haben.
»Josephine«, sagte er freundlich, »Sie sind eine äußerst höfliche junge Dame, aber wir werden in Zukunft sehr eng zusammenarbeiten. Meinen Sie nicht, es sei an der Zeit, mich Isaac zu nennen?«
»Klar doch, Isaac. Wenn Sie das möchten.« Sie studierte das Gesicht des Detektivs, als sähe sie ihn zum ersten Mal. »Haben Sie eine Freundin, Isaac?«
»Ja. Ich bin verlobt und gedenke, bald zu heiraten.«
Sie lächelte ihn kokett an. »Wer ist die Glückliche?«
»Miss Marion Morgan aus San Francisco.«
»Oh! Mr. Whiteway erwähnte sie. Ist das nicht die Lady, die bewegliche Bilder aufnehmen wird?«
»Ja, sie wird bald hier eintreffen.«
»Mr. Whiteway ebenfalls.«
Josephine warf einen Blick auf die Damenuhr, die sie sich auf den Ärmel ihrer Fliegerjacke genäht hatte.
»Da fällt mir ein, ich muss zum Zug zurück. Er hat eine Modezeichnerin und eine Schneiderin mit einem neuen
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