Todesritual: Thriller (German Edition)
sei nicht gekommen. Die Empfangsschwester entgegnete, die Krankenwagen seien alle entweder unterwegs oder kaputt.
Gemeinsam hatten sie den Aufzug genommen. Nur einer von vieren funktionierte. Die Türen hätten eigentlich aus Glas sein sollen, aber die Scheiben waren entweder kaputt oder nie eingesetzt worden, und so sorgten Schalungsplatten dafür, dass niemand herausfiel.
Trotz dieser Ouvertüre war Max von den Bedingungen auf der Station schockiert.
Alle vorhandenen Betten waren belegt, die Matratzen und Kissen ohne Bezug und verschmutzt. Alte Männer und Frauen lagen nackt und allein da, angeschlossen an fast leere Infusionsbeutel und verschrumpelte Blutkonserven, die an vergammelte Weintrauben erinnerten. Über die Fußleisten krochen Kakerlaken, Urin, Kot und Erbrochenes bedeckten den Fliesenfußboden, und an den Wänden, die vermutlich einmal weiß gewesen waren, inzwischen aber undefinierbare Grau- und Gelbtöne aufwiesen, hatten sich Heerscharen von Fliegen versammelt. An einer Wand hing das allgegenwärtige Che-Guevara-Porträt, und sein leicht nach oben gerichteter, abgewandter Blick und der unbestimmt zornige Ausdruck gewannen hier eine völlig neue Bedeutung, als schaue er wütend weg von dem, was aus seinen Idealen geworden war, als wolle er nicht mit ansehen, wie die Menschen, für deren Freiheit er gekämpft hatte, in den Eingeweiden eines Systems, das ihnen ein besseres Leben versprochen hatte, eines armseligen, würdelosen Todes starben.
Die Krankenschwestern und Ärzte versorgten die Patienten, so gut es ging. Ihre gestärkten und gebleichten weißen Kittel und Uniformen leuchteten praktisch. Mochten sie auch in einer riesigen, übervollen Petrischale arbeiten, sie sahen gut aus dabei. Die Beleuchtung war launisch, die Glühbirnen gingen willkürlich an und aus, wurden plötzlich viel zu hell und dann wieder dunkler bis zum völligen Blackout. Jede Steckdose, die Max sehen konnte, stellte eine potenzielle Gefahr für Leib und Leben dar: Es fehlten Abdeckungen, Kabel hingen heraus, Funken sprühten. Die Luft war zum Schneiden dick und heiß. Keiner der zahlreichen großen Deckenventilatoren funktionierte. Eine Klimaanlage gab es nicht, nur ein paar eiernde Standventilatoren, die allesamt vor einem einzigen Bett in der Ecke unweit eines geöffneten Fensters aufgestellt worden waren. Um das Bett herum standen vier Einkaufswagen mit je einem Block Eis darin, darunter ein paar Eimer, in die es tropfte. Die Ventilatoren bliesen kühle Luft auf einen Leichnam.
Als die Ärztin nach dem 31. und letzten Stich den Faden abschnitt, lief die lange schwarze Naht von Bennys rechtem Wangenknochen bis zu seinem Mundwinkel, sodass es aussah, als habe er bis auf das letzte Bein eine Tarantel verschluckt. Benny betrachtete sich in einem kleinen Spiegel, den die Ärztin ihm hinhielt. Er fing an zu weinen. Die Ärztin legte den Arm um ihn und tätschelte ihm wortlos die Schulter. Als er sich beruhigt hatte, erklärte sie ihm, die Mullbinden seien gerade ausgegangen, und so müsse er die Wunde sauber und trocken halten und dürfe auf keinen Fall kratzen oder die Naht berühren. Dann sammelte sie ihre Sachen zusammen und verschwand. Max folgte ihr.
»Entschuldigen Sie«, sagte er. »Können Sie mir helfen, bitte?«
»Kommt drauf an«, sagte die Ärztin. Sie war schlank, fast dünn, mit Altersflecken auf der dunkelbraunen Haut und Ringen unter den müden blauen Augen. Ihr glattes braunes Haar war zu einem Dutt gebunden und von grauen Strähnen durchzogen.
»Können Sie mir sagen, was Zofran ist? Wofür man es nimmt?«
»Zofran? Nie gehört.«
»Es ist von GlaxoSmithKline.«
»Dann gibt es das hier nicht, wegen des Embargos.«
»Ich will nur wissen, wozu es gut ist.«
»Ich kann das nachschauen. Aber erst muss ich mich um die Patienten kümmern, das wird eine Weile dauern«, sagte sie. »Können Sie hier warten?«
Max schaute sich auf der Station um, sah die emsigen Kakerlaken und den Kot auf dem Fußboden, die gekühlte Leiche in der Ecke, die verdreckten Wände.
»Ich warte draußen«, sagte er.
Auf dem Vorplatz schaute er auf sein Mobiltelefon. Er hatte drei Anrufe von Rosa Cruz verpasst. Es war nach Mitternacht. Er hätte sie gern angerufen, wenn auch nur, um nachweisen zu können, dass er sich gemeldet hatte, aber er hatte keinen Empfang.
Benny stand mit seinen Schuhen und der Perücke in der Hand da, zupfte sich Pailletten von dem blutgetränkten Kleid und schnipste sie zu Boden.
»Und ich dachte,
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