Todesritual: Thriller (German Edition)
größte: ein kleines Mädchen, höchstens sechs oder sieben, stand, ein Windrad aus Plastik haltend, in einem Garten. Runde Wangen, Korkenzieherlocken, ein breites Lächeln und strahlende dunkle Augen.
»Das ist Melody, Vanettas Tochter«, seufzte Sarah. »Sie wäre heute achtundvierzig. Sie ist zweisprachig aufgewachsen, konnte Spanisch und Englisch. Und sie konnte in beiden Sprachen lachen. Ein aufgewecktes, glückliches kleines Mädchen.«
»Hat Vanetta einen Freund?«, fragte Max und betrachtete das nächste Foto. Es zeigte Vanetta, Ezequiel Dascal und wieder Melody. Ezequiel hatte seine Tochter hochgehoben und hielt sie in die Kamera, die Kleine schaute geradewegs in die Linse und zeigte mit ihrem Spielzeug auf den Fotografen. Ezequiel war groß und trug eine Brille, ein schmaler, scharf geschnittener Ziegenbart verlängerte sein rundes Gesicht. Er sah ungefähr so aus wie Sarah, nur freundlicher und sanfter.
»Einen Liebhaber, meinen Sie? Vanetta?« Sarah lachte. »Um einen Menschen lieben zu können, braucht man einen gewissen inneren Frieden. Vanetta hat keinen Frieden. Sie ist im Krieg. Auch jetzt noch. Sie wird kämpfend sterben. Sie hat immer gesagt, sie hoffe, noch erleben zu dürfen, wie Eldon Burns vor ihr auf den Knien liegt und um sein Leben bettelt. Wie Ezequiel es vor ihm getan hat.«
»Sind Ezequiel und Melody nicht bei dem Brand im Jakobinerhaus in den Flammen ums Leben gekommen?«
Sie schaute ihm in die Augen. »Wie gesagt: Wie viel Wahrheit können Sie verkraften?«
»Was wollen Sie damit sagen?« Max packte sie beim Arm. Sie zuckte zurück und schaute auf seine Hand hinunter, bis er sie losließ.
»Machen Sie das nicht noch einmal«, sagte sie.
»Tut mir leid«, sagte er beschämt.
Sie rieb sich den Arm. Schaute ihn wütend an. Dann wurde ihr Blick wieder sanfter, und sie schaute an ihm vorbei zur Wand.
Sie berührte die Unterkante des ersten Fotos – ein Gruppenbild mit Vanetta, irgendwo draußen. Vanetta sitzend vor einer Gruppe von Männern und Frauen, die lächelnd im Halbkreis um sie herumstanden.
Max brauchte ein paar Sekunden, das Foto wiederzuerkennen.
Aber dann hatte er es. Es war vor dem Zentrum in Trinidad aufgenommen worden, das er besucht hatte. Es war praktisch identisch mit dem Wandgemälde.
Mit einem einzigen entscheidenden Unterschied.
Das Kind war nicht übermalt worden.
Der Junge saß zu Vanettas Füßen, einen Arm um ihre Wade geschlungen, vielleicht um sich abzustützen oder um sich anzukuscheln. Sie hatte ihm die Hand auf den Kopf gelegt, als wollte sie ihn streicheln oder tätscheln. Das Foto war zu klein, um mehr als die groben Gesichtszüge erkennen zu lassen, dennoch war die Missbildung seiner Lippen unübersehbar. Es sah aus, als kaute der Junge auf einer großen Blüte herum, als hätte er sich den Stängel bereits einverleibt und sei soeben mit den Zähnen bei den Blütenblättern angelangt. Der Junge hatte eine Gaumenspalte.
»Wer ist das?« Max zeigte auf ihn.
»Das weiß ich nicht«, sagte Sarah.
»Hat Vanetta je einen Mann namens Osso erwähnt?«
Sie dachte nach, angestrengt, und schüttelte dann den Kopf.
Aus dem Augenwinkel sah er, dass Benny es sich im Sessel bequem gemacht hatte, die Hände über dem Bauch gefaltet, die Füße auf dem Hocker.
Max studierte die anderen Personen in der Gruppe. Er sah den hellhäutigen Mann im Overall, der direkt hinter Vanetta stand. Auf dem Wandgemälde war er etwas größer dargestellt gewesen als die anderen – größer und breiter und ein Stückchen weiter vorn. Von seiner Hautfarbe und dem Overall abgesehen, war der Mann eher unauffällig. Etwas größer als der Durchschnitt und von normaler Statur. Er hatte lockiges Haar, fast einen Afro.
»Wer ist das?«
»Das ist Elias.«
»Können Sie mich mit ihm zusammenbringen?«
Sarah schüttelte den Kopf. »Seit er Vanetta abgeholt hat, habe ich ihn nicht mehr gesehen.«
»Er hat sie abgeholt?«
»Er hat sie auf die Insel gebracht.«
»Im September?«
»Ja«, sagte sie. »Vielleicht ist er dort bei ihr. Vielleicht auch nicht. Er hat Verwandte in der Dominikanischen Republik. Und die Zentren sind schon seit über einem Jahr geschlossen.«
»Sie sagten, er hat sie abgeholt. Was hatte er für einen Wagen?«
Sie lachte. »Witzig, dass Sie danach fragen. Es war ein Mercedes. Einer von diesen großen alten. Als Vanetta ihn sah, sagte sie › Mi coche fúnebre ha llegado temprano‹ – mein Leichenwagen ist früh dran. Das ist ihre Art Humor.«
War es
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