TODESSAAT
Nachbarhaus. Sollte irgendetwas passieren, könnte Jordan auf diesem Weg so etwas wie eine Flucht bewerkstelligen. Beide ESPer hatten allerdings die übersinnlichen »Schwingungen« der Umgebung überprüft, und es schien nichts in der Luft zu liegen. Jordan hatte seine Befürchtungen in dieser Hinsicht ohnehin überdacht und konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass das E-Dezernat bei ihm vorging wie bei Yulian Bodescu. Auf jeden Fall beruhigte er sich damit, dass sie nichts Überstürztes tun würden.
Johnny Founds Adresse in Darlington war die Parterrewohnung eines alten, viergeschossigen viktorianischen Reihenhauses am äußeren Rand des Stadtzentrums. Die ehemals roten Ziegelsteine waren von der Nähe zur Hauptbahnlinie schwarz geworden, die Fenster trübe. Von einem Pfad in dem winzigen, von Unkraut überwucherten Vorgarten führten drei Stufen hoch zu einem gemeinschaftlich genutzten Vorbau. Genau hinter der Fassade dieses Vorbaus – hinter den schmuddeligen Fenstern voller Fliegendreck – befand sich Founds Wohnung.
Bei dem Gedanken kribbelte es Harry in den Fingerspitzen, und er spürte, wie die Gier des Vampirs in ihm wuchs, während er im Zwielicht die Straße erst in der einen, dann in der anderen Richtung auf- und abschritt, vorbei an der düsteren Eckwohnung eines Nekromanten des zwanzigsten Jahrhunderts – des Mörders der blutjungen Penny Sanderson.
Ihn einfach damit zu konfrontieren, wäre natürlich die nächstliegende Lösung, doch die war im Plan des Necroscopen nicht vorgesehen. Nein, denn dann könnte er nur ein übereiltes Ergebnis erzielen: Der Beschuldigte würde, im Sprachgebrauch der Polizei, entweder das Unschuldslamm spielen oder aber gewalttätig werden, und dann würde Harry ihn töten. Das wäre viel zu einfach.
Founds Vorgehensweise dagegen, sein modus operandi, war hinterrücks und grausam; sie zielte darauf ab, seinem Opfer möglichst große Angst einzujagen, ehe er seine schrecklichen Untaten beging. Harry war darum zu tun, ihn einer angemessenen Strafe zuzuführen. Dabei sollte es sogar so etwas wie ein Gerichtsverfahren geben. Allerdings eher ein Verfahren im Sinne eines Gottesurteils als eines Prozesses, der einem Richterspruch vorausgeht. Denn wenn Johnny Found tatsächlich der Gesuchte war, stand sein Urteil bereits fest.
Der Feierabend hatte begonnen. In den dämmrigen Straßen ließ der Verkehr allmählich nach, die Leute machten sich auf den Weg nach Hause, darunter auch einige, die das Haus betraten, in dem der Nekromant wohnte. Eine Frau mittleren Alters mit einer prall gefüllten Plastiktüte fummelte nach ihrem Schlüssel, schloss die Haustür auf und ging hinein. Eine junge Frau mit strubbeligem Haar und einem quengelnden Kind an der Hand rief ihr nach, sie solle warten und die Tür aufhalten. Als Letzter kam, müde und mit hängenden Schultern, ein älterer Mann, der eine lederne Werkzeugtasche trug.
In einem Mansardenzimmer unter dem abschüssigen Dach ging das Licht an. Im zweiten Stock flammte ein weiteres auf, und im dritten noch eins. Harry sah einen Moment lang weg, blickte die Straße entlang und wandte sich wieder dem Haus zu – gerade noch rechtzeitig, um mitzubekommen, wie in einem verwinkelten Eckfenster im Parterre ein weiteres, wesentlich schwächeres Licht aufflammte. Dabei hatte er Found nicht hineingehen sehen.
Das Haus lag an einer Straßenecke. Also musste es einen Nebeneingang geben. Harry wartete, bis die Autos vorüber waren, überquerte die Straße und ging um die Ecke. Da war sie: eine Tür in einer Nische, Johnny Founds privater Zugang zu seinem Bau. Johnny war zu Hause.
Harry ging über das Kopfsteinpflaster der Seitenstraße und verschmolz mit den Schatten des Gebäudes auf der gegenüberliegenden Seite. Er wandte sich um, lehnte sich an die Wand und betrachtete das Licht, das auch auf dieser Seite aus einem winzigen Fenster aus Founds Wohnung fiel. Er fragte sich, was Found da drin wohl gerade tun mochte, was er dachte ... bis ihm dämmerte, dass er sich ja nicht damit begnügen musste, sich nur Gedanken zu machen. Denn Trevor Jordan hatte ihn mit der Fähigkeit versehen, es herauszufinden.
Er streckte seine durch den Vampirismus verstärkten telepathischen Fühler aus, sandte sie durch das Dunkel der Nacht über die Straße und durch das alte Backsteinmauerwerk in das rußgeschwärzte Haus, in dem das Böse lauerte. Doch der Versuch war ziellos und ungeübt und verlief in alle Richtungen zugleich, wie wenn man einen
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