Todesschiff: Ein Island-Krimi (German Edition)
das Bild allein natürlich nicht reicht.«
»Nehmen Sie es. Nehmen Sie ruhig alles, was wichtig ist. Natürlich wäre es schön, es zurückzubekommen, aber so bald werden wir die Sachen unseres Sohnes noch nicht durchschauen. Das ist noch zu schwer für uns«, antwortete Margeir, nahm das Bild und musterte es. »Die beiden haben gerne gemalt. Schon als sie noch ganz klein waren, konnten sie sich stundenlang mit Malstiften beschäftigen. Sigga Dögg ist genauso, aber sie ist im Moment noch zu aufgewühlt. Die Kleine merkt genau, dass etwas Schlimmes passiert ist.«
»Hat das Jugendamt Kontakt zu Ihnen aufgenommen, nachdem ich mit deren Anwalt gesprochen habe?«, fragte Dóra und betrachtete das Bild, das Margeir auf den Küchentisch gelegt hatte. Die schwarzen Augen der Figuren starrten ins Leere, und ihre feuerroten Münder lachten irre. Der Anblick war unheimlich, und Dóra hätte am liebsten die Kreditkartenabrechnung daraufgelegt. Doch die Figuren würden weiterlachen, und nichts würde sich ändern. Sie versuchte ihnen im Geiste Leben einzuhauchen und hoffte, dass die Mädchen gefunden würden, dass jemand sie an der Küste von Grótta an Land gebracht, versteckt oder außer Landes geschafft hätte. Die Hoffnung war zwar gering, aber dennoch eine Hoffnung.
»Ja, ich glaube schon«, antwortete Margeir.
Der alte Mann legte seine Hand auf den Griff einer Schublade, schien sich aber nicht zu erinnern, ob er sie schon geöffnet hatte.
»Ich vergesse in letzter Zeit so viel. Die rufen ständig an. Meine Frau steht kurz vorm Nervenzusammenbruch, und ich bin selbst auch nicht mehr weit davon entfernt.« Er starrte auf den Boden. »Man denkt oft, dass es hoffnungslos ist, dass wir auf Dauer kein guter Elternersatz sind und es einfach akzeptieren sollten. Geld ändert nicht viel daran. Früher oder später werden wir diesen Leuten die Tür aufmachen und ihnen die Kleine übergeben. Es ist schwer zu lieben, wenn die Liebe dem Geliebten schadet.«
Dóra legte dem Mann die Hand auf die Schulter.
»Ich glaube, Sie haben vollkommen recht. Ihre Enkeltochter ist bei jüngeren Pflegeeltern bestimmt besser aufgehoben. Aber sie sollte natürlich möglichst viel Kontakt zu Ihnen haben. Sie sind ihre einzige Verbindung zu ihrer Herkunft und unschätzbar wichtig für das Kind.« Sie zog ihre Hand wieder zurück. »Ich habe diese Woche einen Termin mit der Abteilungsleiterin. Hoffentlich wird es möglich sein, eine Regelung zu finden, die für Sie und das Kind auf Dauer am schmerzlosesten ist. Es wäre brutal, Ihnen den Umgang mit der Kleinen zu verweigern. Und dumm noch dazu.«
Danach sprachen sie nicht mehr viel. Margeir setzte sich an den Küchentisch, um sich auszuruhen. Dóra durchsuchte weiter erfolglos die Küche. Ihr fielen vor allem die verdorbenen Lebensmittel auf: ein Brot mit grünem Überzug im Vorratsschrank sowie zwei halbe Fladenbrote im selben Zustand. Sie schloss den Schrank sofort wieder, aber der Schimmelgeruch blieb ihr in der Nase hängen.
»Ich weiß nicht, ob wir altes Brot wegwerfen dürfen.«
Sie ging zum Kühlschrank und öffnete ihn. Es befand sich nichts Verdorbenes darin, aber das Ablaufdatum auf den Milchtüten machte nicht unbedingt durstig.
»Ich habe der Polizei gesagt, dass wir hier vorbeischauen wollten, und die haben nichts gesagt. Sie sind wohl noch nicht hier gewesen, und es klang auch nicht so, als stünde das an. Aber wir sollten lieber nichts wegwerfen.«
»Warum sollten sie sich das Haus anschauen? Das geht die doch gar nichts an.« Margeir klang schon wieder lebendiger. Wut auf alle, die seine Familie verdächtigen wollten, war in ihm hochgekocht und hatte die Trauer verscheucht. »Und ich weiß wirklich nicht, was für eine Rolle altes Brot spielen soll.«
Dóra schloss den Kühlschrank und sagte lächelnd:
»Nein, das ist wohl nicht so offensichtlich. Es sei denn, um zu bestätigen, dass Ægir und Lára in der letzten Zeit nicht hier waren und wann sie abgereist sind.« Das klang so unsinnig, dass Dóra gerne noch etwas Schlaues gesagt hätte, aber ihr fiel nichts ein. »Ich gehe mal nach oben. Hier ist nichts.«
Margeir nickte, machte aber keine Anstalten aufzustehen.
»Ich bleibe solange hier.«
Dóra vermutete, dass er, wenn sie das Haus verließe, stundenlang am Tisch sitzen bliebe – allein mit seinen Gedanken und Erinnerungen.
Im Flur im Obergeschoss dämpfte der Teppichboden die Schritte, so dass es noch stiller wirkte als im Erdgeschoss. Dóra ging an vier offen
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