Todesschiff: Ein Island-Krimi (German Edition)
sich bei ihren Eltern über die jeweils andere beschwerten – was Arna allerdings eher selten und Bylgja fast nie machte.
Lára lächelte halbherzig. Sie hatte selbst ein ungutes Gefühl bei dieser Überfahrt. Was im Grunde nicht unnormal war, denn es war ihre erste Seereise, abgesehen von ein paar Fahrten mit der Fähre Herjólfur auf die Westmännerinseln. Die Umgebung war ungewohnt, und an Bord fehlte ihr die Sicherheit, festen Boden unter den Füßen zu haben. Hier gab es kein Krankenhaus, an das man sich wenden konnte, wenn einer von ihnen krank wurde. Es gab keinen Zahnarzt, wenn sie Zahnschmerzen bekamen. Es gab auch kein Geschäft, in das sie mal kurz gehen konnten, wenn sie etwas vergessen hatten. Aber das Schlimmste war, dass das Meer um sie herum so unendlich groß war. Lára hatte natürlich schon oft Karten gesehen, die die Ausmaße der Weltmeere im Vergleich zur Landfläche zeigten, aber solche Darstellungen bildeten einfach nicht die unendliche Weite ab, die ihnen nun aus allen Richtungen entgegenkam. Wasser, Wasser, endlos Wasser.
»Natürlich gehen wir nicht unter. So einem Boot kann nichts passieren«, sagte sie. Die Mädchen wirkten nicht überzeugt, weshalb sie hinzufügte: »Ich habe den Kapitän gefragt, und er hat gesagt, dass das Boot nicht untergehen kann. Ihr müsst euch keine Sorgen machen. Überhaupt keine.«
Das schien zu wirken. Lára hätte sich gewünscht, von ihren eigenen Worten überzeugt zu sein.
Bylgja schloss hinter ihrem schiefen Brillengestell die Augen und sank aufs Kissen. Arna schaute sie fast beleidigt an und hantierte mit dem Brettspiel herum, das sie gerne vorm Einschlafen gespielt hätte.
»Lies lieber in deinem Buch, Schatz. Bylgja muss sich ausruhen, morgen früh geht es ihr wieder besser.«
Vorsichtig setzte Lára Bylgja die Brille ab und legte sie auf den Nachttisch.
»Und du? Willst du spielen?«, fragte Arna, obwohl sie die Antwort wusste. Lára war als Mutter zu vielem bereit, aber mit ihren Töchtern zu spielen, gehörte nicht dazu.
»Nein, Schatz. Ich gehe kurz zu Papa, und dann kommen wir noch mal zu euch. Dann bist du bestimmt noch nicht eingeschlafen.« Sie gab jedem Mädchen einen Kuss auf die Wange und sagte dann leise zu Arna: »Komm sofort zu uns, wenn Bylgja sich übergeben muss. Wir sind draußen an Deck.«
In der Türöffnung drehte sie sich noch einmal um, gab den Zwillingen jeweils einen Fingerkuss und warf dann noch einen dritten für Sigga Dögg hinterher. Die Kleine starrte sie von dem glänzenden Fotopapier mit leblosen Augen an, die dicken Fingerchen fest um die Seile der Schaukel gekrallt.
»Kennst du dich mit Seekrankheit aus?« Lára ließ sich neben Ægir auf die Bank im Bug fallen. Er hatte eine Flasche Rotwein aufgemacht und zwei Gläser geholt. »Ich glaube, Bylgja ist seekrank. Oder jedenfalls kurz davor.« Sie strich sich mit den Händen durchs Haar und seufzte. »Du kannst mir gerne ein bisschen Rotwein geben. Oder ein bisschen mehr. Mir ist zwar selbst nicht ganz wohl, aber das kann nur gut tun.«
Ægir schenkte ein – nur ein wenig, wie sie es bei dem Weinseminar gelernt hatten, das Lára ihm letzten Herbst zum Geburtstag geschenkt hatte.
»Ich weiß nur, dass man nicht viel dagegen machen kann. Frische Luft soll guttun, und man soll draußen an Deck bleiben.« Bei Ægirs Sportbootkurs war das kein Thema gewesen. Er nippte an seinem Rotwein. »Der ist wirklich lecker. Gute Wahl.«
Er freute sich darauf, sich öfter so etwas genehmigen zu können. Die größten Geldsorgen lagen hinter ihnen und eine angenehme Zukunft vor ihnen. Eigentlich war es gar nicht so schlecht, älter zu werden.
Lára tat es ihm nach, trank allerdings einen wesentlich größeren Schluck.
»Sollen wir Bylgja holen? Sie könnte sich hier auf die Bank zu uns legen. Sie war allerdings gerade am Einschlafen, ist vielleicht keine so gute Idee.«
Sie stellte das Glas auf den Tisch. Es war bauchig und hatte einen ungewöhnlich langen Stiel. Es war bestimmt teuer gewesen. Furchtbar teuer.
»Vielleicht sollte ich Þráinn um Rat fragen.«
»Ach, nee.« Ægir nahm sie in den Arm. »Den lassen wir erst mal in Ruhe. Sonst setzt er sich noch zu uns, und ich habe im Augenblick echt keine Lust auf ihn. Genießen wir es doch einfach, alleine zu sein.«
Jenseits der Reling war es stockdunkel. In der schwarzen Finsternis hätte sich alles Mögliche verbergen können, und sie hätten ebenso gut an Land sein können, wenn das Rauschen der Wellen und das
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