Todesschiff: Ein Island-Krimi (German Edition)
schien ihm nicht zu glauben. Die Mädchen blickten gespannt von ihrer Mutter zu ihrem Vater und warteten auf seine Reaktion.
»Nein, ich meine es ernst. Sie ist viel zu perfekt, um interessant zu sein. Zu schöne Menschen wirken oft langweilig, und die Leute reagieren anders auf sie, es geht nie um ihre inneren Werte.« Er trat einen Schritt von dem Bild zurück und hatte das Gefühl, dass sich die Augen der Frau in seinen Rücken bohrten. »Natürlich lässt sich das nicht verallgemeinern und ist nicht wissenschaftlich erwiesen, aber ich finde es trotzdem. Die Frau ist oberflächlich.«
Lára lächelte breit.
»Du bist ein guter Menschenkenner. Ich glaube, sie ist total dämlich. Die Interviews mit ihr sind meistens ziemlich banal, und sie wirkt immer arrogant.«
Arna schien damit nicht einverstanden zu sein und sagte:
»Aber du sagst doch oft, dass wir hübsch sind, Papa. Sind wir dann böse?«
Die zarten Gesichter seiner Töchter mit ihren strubbeligen Haaren gehörten zu dem Schönsten, was er je gesehen hatte. Doch die Schönheit steckte in den unvollkommenen Details: etwas zu große Zähne, ein schiefes Lächeln, Sommersprossen und unterschiedlich hohe Augenbrauen. Bylgjas verschmierte Brille, die sie mit den Fingern abgewischt hatte, als sie hereingekommen waren.
»Ich habe doch gesagt, dass man das nicht verallgemeinern kann. Überhaupt nicht. Die Menschen, die immer nur an ihr Äußeres denken, verlieren ihre Ausstrahlung. Aber ihr nicht. Niemals.«
»Na gut«, sagte Arna versöhnt.
Bylgja schien nachzudenken. Sie hielt einen roten Wachsstift in ihrer ungewöhnlich ruhigen Hand.
»Die Frau in meinem Traum war überhaupt nicht böse. Nur traurig. Vielleicht war es ja eine andere Frau«, sagte sie.
»Na, vielleicht habe ich ja auch unrecht, und sie ist total nett«, sagte Ægir lächelnd. »Es wäre nicht das erste Mal, dass ich mich getäuscht habe, kann ich euch sagen.«
Der rote Stift sank langsam auf das halbfertige Bild im Malbuch.
»Hoffentlich, Papa. Hoffentlich ist sie nett«, sagte Bylgja und wandte sich wieder ihrem Malbuch zu.
Die rote Farbe bedeckte eine immer größer werdende Fläche des Bildes, und aus Ægirs Blickwinkel sah es so aus, als blute der Stift langsam, aber sicher aus.
7. Kapitel
Es kam gar nicht so selten vor, dass draußen auf dem Meer Menschen spurlos verschwanden. Die Geschichten, die im Internet kursierten, hatten Dóra lange wachgehalten. Das, was sie daran faszinierte, kam ihr gleichzeitig höchst ungelegen: sämtliche Geschichten waren ungelöste Rätsel, für die es keine Erklärungen gab. Mit den Leuten auf der Lady K war es wahrscheinlich genauso – sie würden in Geschichten über das mysteriöse Verschwinden von Menschen auf einer Motoryacht weiterleben und mit der Zeit namenlos und vergessen werden.
Eines der berühmtesten Geisterschiffe war die Mary Celeste , die 1872 bei gehissten Segeln im Atlantik treibend gefunden wurde – einen Monat nachdem sie den Hafen von New York mit Kurs auf Genua verlassen hatte. Eines der Rettungsboote war verschwunden, aber das Schiff war seetüchtig und hatte Wasser- und Nahrungsvorräte für ein halbes Jahr an Bord. Die Fracht sowie die persönlichen Gegenstände der achtköpfigen Besatzung und der zwei Passagiere waren unangetastet. Die Schiffspapiere waren verschwunden, mit Ausnahme des Logbuchs, das jedoch kein Licht auf die Ereignisse warf. Die Geschichte der Mary Celeste erinnerte unangenehm an die der Lady K , zumal es sich bei den Passagieren um die Ehefrau und die einjährige Tochter des Kapitäns gehandelt hatte. Besatzung und Familie hatten sich in Luft aufgelöst. Die Ursachen wurden nie ergründet, und der Fall blieb eines der größten Rätsel der Geschichte der Seefahrt.
Dóra war jedoch nicht nur auf alte Geschichten von verlassenen Schiffen gestoßen, sondern auch auf jüngere, davon fünf aus den letzten zehn Jahren. Am bemerkenswertesten war das Verschwinden dreier Männer von dem Katamaran Kaz II vor der Küste Australiens im Jahr 2007. Als man das Schiff fand, war es völlig unversehrt, an Bord sah alles normal aus – aber von der Besatzung fehlte jede Spur. Auf dem Tisch stand Essen, ein Laptop war eingeschaltet, und der Motor lief. Die Rettungswesten und die gesamte Rettungsausrüstung befanden sich an ihrem Platz. Keine Hinweise auf einen Überfall oder Gewaltanwendung. Nicht unähnlich der Situation an Bord der Lady K , außer dass man auf der Kaz II eine Kamera mit Filmausschnitten von
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