Todesschiff: Ein Island-Krimi (German Edition)
Atemzügen. Er wollte nicht hier sein, alleine mit dem Inhalt dieser Tüte. Dann wurde er plötzlich wütend und riss, ohne weiter darüber nachzudenken, ein Loch hinein.
Sein Blick fiel auf schneeweiße, reifüberzogene Finger mit rotem Nagellack.
Es wurde eng in der kleinen Kammer, weil sich alle hereindrängelten, aber keiner direkt neben der Truhe stehen wollte.
»Was sollen wir tun?«, fragte Lára. Sie war noch heiser vom Schlaf, hatte wirre Haare und Kissenabdrücke auf der Wange. Loftur und Halli waren auch gerade erst aufgewacht, ließen sich die Nervosität aber weniger anmerken.
»Was sollen wir tun?«, wiederholte Lára mit zitternder Stimme. »Wir können doch nicht einfach mit einer Toten in der Kühltruhe nach Hause fahren, als wäre überhaupt nichts geschehen!«
»Wer das wohl ist?« Þráinn beugte sich vor und starrte in die Kühltruhe. Ihr Inhalt war noch genau so, wie Ægir ihn zurückgelassen hatte. Keiner wollte die Tüte anfassen, nachdem er den Deckel angehoben hatte, um ihnen zu zeigen, dass er nicht verrückt geworden war.
»Ich bin mir nicht sicher, ob ich das wissen will. Und ich muss auch nicht unbedingt das Gesicht dieser Frau sehen. Ist ja auch egal, wer das ist, wir kennen sie sowieso nicht«, sagte Halli und schüttelte sich. »Hoffe ich zumindest.«
Lára knabberte an ihrer Lippe.
»Jetzt sagt doch mal, was sollen wir tun?«
Ægir öffnete den Mund, schwieg aber. Er hatte keine Ahnung, was sie jetzt machen sollten, und außerdem hatte Þráinn das Sagen an Bord, das war sein Problem. Und er beneidete ihn nicht darum, denn er hatte im Augenblick genug mit sich selbst zu tun und wäre keineswegs in der Lage gewesen, anderen zu sagen, was sie tun sollten. Seit ihm klargeworden war, was sich in der Tüte befand, hatte er automatisch die Befehle seines Gehirns befolgt: Truhe schließen, Kapitän holen, Loftur und Halli wecken und mit ihnen auf die Brücke gehen, ohne Lára und die Kinder zu wecken. Lára war zwar aufgewacht, aber die Mädchen schliefen immer noch tief und fest.
Energisch ergriff Þráinn das Wort, ohne Diskussionen oder Gegenvorschläge zuzulassen:
»Wir machen nichts. Wir schließen die Truhe und halten Kurs. Wenn wir jetzt etwas anfassen, zerstören wir vielleicht wichtige Beweismittel.«
»Sollen wir nicht die Polizei rufen und die Leiche abholen lassen? Wir könnten doch hier warten oder ihnen entgegenfahren«, warf Lára ein und zog ihre Strickjacke fester zu, um sich gegen die Kälte zu schützen, die aus der Truhe drang.
Þráinn schnaubte verächtlich.
»Wir warten nicht auf die Polizei. Woher sollte die denn kommen? Wir sind meilenweit von der nächsten Polizeistation entfernt und befinden uns außerhalb des Zuständigkeitsbereichs irgendeines Landes.«
Ægir hatte auf der Karte, in der ihre Route eingezeichnet war, gesehen, dass sie den portugiesischen Rechtsraum längst verlassen hatten und sich jetzt in internationalen Gewässern befanden.
»Und dann? Können wir überhaupt nichts tun? Gibt es auf dem Meer denn keine Gesetze?«
Lára spähte zu der Truhe und schüttelte sich. Sie war die Einzige, die es nicht über sich gebracht hatte, hineinzuschauen, und den Männern nur gefolgt war, um nicht alleine in der Küche stehen zu müssen.
»Natürlich gibt es hier Gesetze«, sagte Þráinn, ohne näher zu erläutern, um welche es sich dabei handelte und wie man in einem solchen Fall vorzugehen hatte. Aber er würde es schon wissen – selbst Ægir hatte bei seinem Sportbootkurs etwas über Seerecht gelernt, wenn auch nur oberflächlich. Vielleicht wollte der Kapitän Láras Hysterie nicht noch verstärken, indem er die Frage korrekt beantwortete. Ægir wollte sich jedenfalls lieber nicht einmischen. Das konnte er seiner Frau auch später, wenn sie alleine wären, erklären. Aber das war auch gar nicht nötig, denn Þráinn sah Lára geduldig an und erklärte:
»Wir haben keine andere Möglichkeit, als auf Kurs zu bleiben. Wir schließen die Truhe, ich melde den Vorfall, und wir fahren wie geplant nach Island. Dort übernehmen die Behörden den Fall. Das ist ein isländisches Schiff, und auf See gelten die Gesetze des Landes, unter dessen Flagge man fährt.« Er warf Ægir einen Blick zu. »Sind auch ganz sicher alle Papiere in Ordnung? Oder ist bei der Registrierung der Yacht auch was schiefgegangen, so wie mit dem Telefon?«
Ægir begegnete seinem Blick und wusste auch ohne Spiegel, dass er ein dummes Gesicht machte.
»Doch, ich meine
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