Todesschlaf - Thriller
die das hätte ändern können, klebte draußen im Flur fest wie ein Insekt an einem Fliegenfänger.
»Sie haben ihn gequält«, sagte die Krankenschwester anklagend und mit aggressiver Gestik. »Das lasse ich nicht zu. Er ist ein menschliches Wesen und kein Stück Fleisch.«
Timmie seufzte. »Gut. Prima. Danke. Ich bitte um Verzeihung. Und jetzt gehe ich da rein und besuche ihn.«
»Ich habe ihn gerade erst zur Ruhe gebracht.«
Timmie lächelte. »Dann bringen Sie ihn eben noch mal zur Ruhe.«
Sie betrat das sterile, stille Zimmer, während die Krankenschwester draußen im hell erleuchteten Flur kochte. »Wir haben sämtliche Medikamente abgesetzt«, informierte sie Timmie in strengem Tonfall. »Nur, damit Sie Bescheid wissen, wenn Sie ihn wieder zu sich nach Hause nehmen.«
»Nach Hause?«, wiederholte Timmie. Sie drehte sich um und sah die Krankenschwester als Silhouette im Flur stehen wie einen General bei der Abnahme seiner Truppen.
Nach Hause. Allein diese zwei Worte genügten, um ihr Herz tonnenschwer werden zu lassen. Die gestrige Nacht war die erste seit einem Monat gewesen, in der sie hatte durchschlafen können. Sie hatte Zeit gehabt, um mit Meghan zu spielen ohne mit einem Ohr bei ihrem Vater und irgendwelchen möglichen Schwierigkeiten zu sein. Sie hatte es tatsächlich geschafft, sich vorzumachen, es könnte alles gut werden.
»Übermorgen. Sie haben doch nicht erwartet, dass wir ihn für Sie einlagern, oder?«
Timmie rang um einen beruhigenden Atemzug. Das Ganze wäre einfacher zu verkraften gewesen, hätte sie nicht schon öfter in Bezug auf die Verwandten alter Menschen ge
nau dasselbe gedacht. All jene Familien, über die sie so unbedarft gerichtet hatte, während ihr Vater zweitausend Kilometer weit entfernt gewesen war.
»Und ein Pflegeheim?«
»Er steht auf der Warteliste.«
Scheiße. Gequirlte. Allein bei dem Gedanken, wieder in dieses alte Haus zurückkehren zu müssen, bekam Timmie plötzlich keine Luft mehr.
Und dann, um das Ganze noch schlimmer zu machen, wandte sie sich ihrem Vater zu, der regungslos und mit offenen Augen auf dem Bett lag, während die traurigen Töne des Klageliedes sich wie kalter Rauch in der Dunkelheit aus ihm lösten.
»Daddy?«
Langsam richteten sich seine alten blauen Augen auf sie. »Timmie?«
Timmie brachte unter größter Anstrengung ein Lächeln zustande, obwohl sie am liebsten nur laut geschrien hätte. »Na, mein Süßer? Wie geht es dir?«
Seine Augen liefen über vor Tränen, und er griff nach ihrer Hand. »Bring mich nach Hause,Timmie. Bitte. Ich möchte nach Hause.«
Als ob das irgendetwas besser gemacht hätte.
Als ob irgendetwas das besser gemacht hätte.
Es dauerte eine weitere Woche, bis Timmie zumindest einen Wunsch erfüllt bekam. Endlich echte Unfallopfer. Doch natürlich musste sie die Zeit, bis es so weit war, damit zubringen, ihren Vater wieder nach Hause zu holen - und zwar ohne die wohltuend beruhigende Wirkung starker Psychopharmaka. Sie verschliss drei weitere Babysitter und schickte Meghan schließlich für ein paar Tage zu den Nachbarn, damit das kleine Mädchen nicht unter den Wutanfällen ihres Großvaters zu leiden hatte.
Was man von Timmie nicht sagen konnte. Sie handelte sich an den Abenden, an denen auch Baseball nichts mehr nützte, eine ganze Reihe blauer Flecken, einen gebrochenen Finger sowie einen Wackelzahn ein und entwickelte darüber hinaus einen gewaltigen Frust, weil sie allem Anschein nach nicht in der Lage war, eine geeignete Unterkunft für ihren Vater zu finden.
Das Gute daran war, so dachte sie, dass diese Schwierigkeiten jedes Bedürfnis nach Rebellion und Systemveränderung vollkommen in den Hintergrund drängten. Sie hatte einfach keine Kraft mehr, sich auch nur ansatzweise darüber zu empören, dass Ellen möglicherweise mit einem Mord davongekommen war. Sie verlor kein böses Wort über Van Adder und führte keine Telefonate zum Thema »verdächtig gestiegene Sterberaten« mit Murphy. Mehr konnte sie nicht tun, um ihr häusliches Trauma zu bewältigen, und auf gar keinen Fall wollte sie sich bei der Arbeit zusätzliche Schwierigkeiten aufhalsen.
Einmal rief Murphy sie an, aber nur um sich zu erkundigen, ob er mit Joe sprechen könne. Timmie, die gerade ihren verletzten Finger versorgte und unter rasenden Kopfschmerzen litt, hätte beinahe eingewilligt. Aber ihr war klar, dass, solange sie Joe nicht wirklich dauerhaft irgendwo untergebracht hatte, ein Gespräch über sein Leben die ganze
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