Todesschrei
es zu spät. Er war durch Jagers Handlanger ersetzt worden.
Philadelphia, Sonntag, 11. Januar, 17.00 Uhr
Es war schlimmer, als sie sich es je hätte vorstellen können. War sie bis zum frühen Nachmittag noch aufgeregt und glücklich gewesen, endlich wieder richtig arbeiten zu können, hatte sie beim Anblick des Toten nur noch kalte Furcht empfunden. Und ihr wurde innerlich kälter und kälter, als die Sonne verschwand und sie weiterscannte, wobei sie versuchte, nicht daran zu denken, was unter der Erde lag, in die sie ihre Markierungen steckte.
Dieser Mann, den sie gefunden hatten - jemand hatte ihn gefoltert und getötet. Ihn und andere. Wie viele mochten hier noch liegen?
Katherine war gekommen, um sich das Opfer anzusehen, und sie und Sophie hatten sich nur stumm zugenickt. Eine unnatürliche Stille lag über dem Feld, und der kleinen Armee von Corps, die auf dem Feld arbeitete, schien ebenfalls nicht zum Reden zumute zu sein.
Sophie versuchte, sich darauf zu konzentrieren, die Messwerte der Gegenstände unter der Erde aufzuzeichnen. Nur waren es keine Gegenstände. Es waren Menschen, und sie waren tot. Um nicht daran zu denken, suchte sie Zuflucht in der Routine ihrer Arbeit und steckte mechanisch die Stäbe in den Boden.
Bis sie in ihre Tasche griff und keinen mehr fand. Sie hatte zwei Pakete eingesteckt, und in jedem Paket waren zwölf Stäbe gewesen. Vierundzwanzig Stäbe. Schon sechs Gräber. Plus das, was die Polizei gefunden hatte, bevor sie hier eingetroffen war.
Und ich bin noch nicht fertig. Mein Gott. Sieben Menschen.
Ihre Sicht verschwamm, und sie wischte sich wütend mit dem Handrücken über die Augen. Die CSU hatte bestimmt etwas, mit dem sie die Gräber markieren konnte. Sie hob den Blick, um Jen McFain zu suchen, aber ein Geräusch hinter ihr ließ sie erstarren. Es war ein Reißverschluss, das Ratschen in der surrealen Stille unheimlich verstärkt. Sie begegnete Katherine Bauers Blick über dem Leichensack, den sie gerade zugezogen hatte, und war augenblicklich sechzehn Jahre in der Zeit zurückversetzt. Katherines Haar war dunkler gewesen damals, auch ein wenig länger.
Und der Leichensack war viel kleiner gewesen. Auch die leisen Stimmen verblassten nun, und Sophie konnte nur noch das Rauschen ihres eigenen Bluts in den Ohren hören. Katherines Augen weiteten sich in plötzlichem Begreifen, und das Entsetzen in ihren Augen war dasselbe wie damals.
Sophie hörte ihren Namen, aber sie sah nichts als den Körper auf der Bahre, wie er damals dort gelegen hatte. So klein. An diesem Tag war sie zu spät gekommen und hatte nur noch schockiert zusehen können, wie man sie davongeschoben hatte.
Die Woge von Kummer, die sie nun überschwemmte, war unerwartet in ihrer Intensität. Wut kam in ihrem Sog, bittere, kalte Wut. Elle war fort, und niemand konnte sie zurückbringen. »Sophie.«
Sie blinzelte, als jemand ihr Kinn umfasste. Sie konzentrierte sich auf Katherines Gesicht, auf die Falten, die die sechzehn Jahre hinterlassen hatten, und stieß schaudernd den Atem aus. Als ihr wieder einfiel, wo sie war, schlug sie peinlich berührt die Augen nieder. »Tut mir leid«, murmelte sie.
Der Druck an ihrem Kinn verstärkte sich, bis sie den Blick wieder hob. Katherine sah sie finster an. »Geh zu meinem Wagen. Du bist weiß wie ein Laken.« Sophie machte sich los. »Mit mir ist alles in Ordnung.« Sie sah sich um und entdeckte Vito Ciccotelli, der neben dem Leichensack stand und sie beobachtete. Vorhin hatte er sie für taktlos und unsensibel gehalten. Nun dachte er wahrscheinlich, sie sei schwach oder, schlimmer noch, labil. Sie hob das Kinn, straffte die Schultern und begegnete seinem wachsamen Blick mit plötzlichem Trotz. Dann sollte er sie lieber für taktlos halten.
Aber er sah nicht weg. Beunruhigt wandte Sophie den Blick ab und wich einen Schritt zurück. »Es geht mir wirklich gut.«
»Nein«, murmelte Katherine. »Tut es nicht. Für heute hast du genug getan. Ich lasse dich von einem Officer zurückbringen.«
Sophie presste die Kiefer zusammen. »Ich beende, was ich angefangen habe.« Sie bückte sich, um die GPR-Einheit wieder aufzuheben, die ihr aus den Händen gefallen war, als sie ihren kleinen Trip in die Vergangenheit unternommen hatte. »Anders als manch ein anderer.« Sie wollte sich abwenden, aber Katherine packte ihren Arm.
»Es war ein Unfall«, flüsterte sie, und Sophie wusste, dass die Frau aufrichtig daran glaubte. »Ich dachte, du hättest das nach all den Jahren
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