Todessommer: Thriller (Rebekka Holm-Reihe) (German Edition)
fortfuhr: »Ich bin jedenfalls der Einzige in der Familie, und da spreche ich von vielen Generationen, der die Highschool abgeschlossen hat, und zwar mit einem ausgezeichneten Abschluss, und der aufs College gegangen ist. Ich wollte einfach nur weg. Das war das Einzige, wovon ich geträumt habe. Ich wollte etwas werden. Etwas Großes, das Prestige und Macht bringt. Jeden Tag, wenn ich aus der Schule nach Hause kam und meine Pflichten erfüllt hatte, habe ich gelesen. Ich habe alles ausgeliehen, was es in der Bibliothek vor Ort auszuleihen gab. Die Bibliothekarin, Mrs. Evans, hatte noch nie einen Leser, der so unmäßig war wie ich, ansonsten war sie nämlich überhaupt nicht mit Lesern verwöhnt. Den größten Teil der Bücher hatte noch nie jemand in der Hand gehabt, die Einwohner von Harlan interessieren sich nicht für Literatur.« Er lachte rau.
Rebekka hörte zu, während sie sich Ryan als Kind vorstellte. Sie sah seinen sehnigen Körper vor sich, das rotbraune Haar und die Augen, die über zahllose Texte wanderten, begierig nach Wissen.
»Wann hast du gewusst, dass du Polizist werden willst?«
»Genau wie alle anderen Jungen war ich begeistert von Polizeiautos und Feuerwehrautos. Meine früheste Erinnerung ist die, dass ich zusammen mit meiner Mutter auf dem Bürgersteig in der Main Street stehe, um mir eine Parade anzusehen. Du weißt schon, so eine typisch amerikanische Parade mit Kostümen, Musikkapellen und Massen von amerikanischen Flaggen. Ich war noch nicht so alt, fünf Jahre vielleicht, und ich erinnere mich, dass ich meine Mutter an der Hand gehalten habe, was nicht oft vorkam, eigentlich kann ich mich nicht erinnern, dass ich sie sonst überhaupt angefasst hätte, aber an diesem Tag waren wir Verbündete. Irgendwann stolzierte ein großer, schöner Mann mit einem Sheriffhut und einem goldenen Stern an uns vorbei, und ich kann mich erinnern, wie sie mich an der Hand gezogen und gesagt hat: ›Ryan, guck mal, der Sheriff. Er ist ein großer Mann hier in der Stadt, und das kannst du auch werden. Du hast das Zeug dazu.‹ In dem Augenblick habe ich gewusst, dass ich Polizist werden würde, ein großer, mächtiger Polizist.«
Ryan lächelte und fügte hinzu: »Dieser Nachmittag in der Main Street in Harlan war für mich ein Aha-Erlebnis von ungeheurem Ausmaß. Ich beschloss, sofort lesen zu lernen, und ein paar Wochen später konnte ich es. Ich bin in die Schule gekommen und habe hart gearbeitet, zur großen Belustigung meiner Familie. Mein Vater hatte nur Hohn für mich übrig, er hat mich nicht verstanden, er hat gar nichts verstanden, geistig minderbemittelt, wie er war. Mein großer Bruder, den man heute als zurückgeblieben bezeichnen würde, war wütend über meinen Verstand und das Wissen, das ich mir langsam angeeignet habe, er hat mich aus Frustration oft zusammengeschlagen, und ich erinnere mich, dass ich immer mein Gesicht geschützt habe. Ich hatte panische Angst, mir den Kopf zu verletzen, einen Hirnschaden zu bekommen, an mein Elternhaus gefesselt zu sein bis zu meinem Tod. Der Gedanke, nicht wegkommen zu können, war meine größte Angst, und ich war mir darüber im Klaren, dass mein Ticket in die Freiheit mein IQ war. Weißt du, ich war immer von Menschen mit leeren Augen und schwarzen, zahnlosen Mündern umgeben. Meine Familie hat mich nicht verstanden, niemand hat mich verstanden. Ich hätte genauso gut von einem fremden Planeten kommen können.«
Rebekka spürte Ryans Blick auf sich ruhen. Sie nickte, rief sich das Gefühl in Erinnerung, anders zu sein. So hatte sie sich oft nach dem Tod ihres Bruders gefühlt. Endlose Spaziergänge am windigen Ringkøbing Fjord, fast immer allein bis auf die wenigen Male, als sie ihren Vater hatte überreden können mitzukommen, wenn seine kranken Lungen es denn zuließen. Sie erinnerte sich an die salzige Brise, die in die Wangen kniff und an ein paar Episoden mit Menschen, die sie kannten und die den Blick niederschlugen, wenn sie sie sahen, weil sie nicht wussten, was sie sagen sollten, und die sie deshalb mieden.
»Ich kenne die Einsamkeit und das Gefühl, alleine zu sein, sehr gut.«
»Das weiß ich, Rebekka. So etwas spürt man bei seinem Gegenüber. Uns beide verbindet etwas ganz Besonderes.«
Sie spürte, wie die Worte sie von innen wärmten. Ryan hatte recht, sie verband etwas Besonderes.
»Hat es denn keins deiner Geschwister geschafft, so wie du alles hinter sich zu lassen?«
Ryan schüttelte den Kopf. »Ich bin das zweitälteste
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