Todessommer: Thriller (Rebekka Holm-Reihe) (German Edition)
von dreizehn Kindern. Acht Jungen und fünf Mädchen. Mein ältester Bruder Tom ist, wie gesagt, zurückgeblieben. Die anderen sind nur unbegabt und dumm. Ich weiß, das klingt hart, aber es ist die Wahrheit. So ist das mit den meisten Kindern, die in tiefer Armmut leben. Wir bekamen oft Wurzeln oder Brei zum Abendessen, selten Fleisch. Wir hatten immer Hunger. Du wirst dir kaum vorstellen können, wie sich echter Hunger anfühlt. Das hohle Gefühl im Bauch, wie ein konstantes Scheuern. Das vergesse ich nie. So war es tagaus, tagein, und bis heute hat sich daran nicht viel geändert. Die Kinder leben noch immer in tiefster Armut, nur dass heute die Kost aus Burgern und Cola besteht. Ich wollte weg – das war das Einzige, wovon ich geträumt habe, wenn ich auf unserer Veranda saß, umgeben von Geschrei und Gejohle, dem Gebell der Hunde und dem Gegacker der Hühner. Ich wollte erwachsen werden, ich konnte es gar nicht erwarten.«
Ryans Beschreibung war so lebendig, dass Rebekka das Gefühl hatte, selbst auf der abgenutzten Holzveranda zu sitzen, während das Geräusch von der rostigen Aufhängung der Gartenschaukel in ihren Ohren knarrte. Sie sah den Mann an, der ihr gegenübersaß, sah, dass er sich, obwohl fünfzehn Jahre älter als sie, verblüffend gut gehalten hatte.
»Warum hast du nie geheiratet?«
Ryan zuckte mit den Schultern. »Das ist eine gute Frage, Rebekka, die sich wohl am besten damit beantworten lässt, dass mir die Richtige noch nicht begegnet ist oder …« Er zögerte, drehte das Glas mit dem Whisky zwischen seinen kräftigen Fingern und ließ sich Zeit, über die Antwort nachzudenken. »Vielleicht mag ich auch nicht in trauter Zweisamkeit leben wie so viele andere. Ich bin immer meine eigenen Wege gegangen.« Er lächelte und fügte hinzu: »Weißt du, da, wo ich herkomme, heiraten die meisten sehr früh und bekommen dann eine Menge Kinder und leben den Rest ihres Lebens in Armut. Ich bin ehrgeizig, ich liebe meine Arbeit, vielleicht ist es einfach so banal, dass ich mit meiner Arbeit verheiratet bin.«
Sie prosteten sich zu und tranken aus. Rebekka verstand ihn. Trotz ihrer sechsunddreißig Jahre bekam sie ja nicht einmal eine Fernbeziehung auf die Reihe. Genau wie bei Ryan stand bei ihr die Arbeit an erster Stelle. Räume ich der Karriere die höchste Priorität ein, weil ich so ein Karrieretyp bin, dachte sie hin und wieder, oder weil ich noch nicht den Richtigen getroffen habe, um eine Familie zu gründen? Schnell schob sie den Gedanken beiseite. Das traditionelle Familienleben war nicht ihr Ding, zum Ärger ihrer Mutter, die sich regelmäßig über die fehlenden Enkelkinder beklagte. Wo doch Robin ihr nie welche schenken würde …
—
»Komm zu mir, meine Schöne. Ich pflanze Küsse auf dich – überall.«
Pernille musste beim Klang von Antonios Stimme einfach lächeln, über sein gebrochenes Dänisch, das leichte Lispeln, das über seine fülligen Lippen kam. Sie hörte ihm gerne zu, wenn er von seiner Kindheit in São Paulo erzählte. Es klang so exotisch, so ganz anders als das Reihenhaus in Hørsholm, wo sie achtzehn Jahre ihres Lebens verbracht hatte. Sie war froh, dass er noch ein weiteres Jahr in Dänemark bleiben würde, bevor seine Familie weiterzog. Antonio freute sich auch. Er liebe Dänemark, hatte er gesagt, mehr als alle anderen Orte, an denen er mit seinem Vater, der Diplomat war, seiner Mutter und seinen vier jüngeren Geschwistern gelebt hatte.
Pernille drückte fest Antonios Hand. Sie sah auf ihre ineinander verflochtenen Finger, sie mochte den Kontrast zwischen seiner hellbraunen Haut und ihrer weißen. Heute hatten sie schulfrei und liefen durch den Wald, um einen Platz zu finden, wo sie für sich sein konnten. Das Reihenhaus ihrer Eltern war zu klein, und zu Hause bei Antonio gab es immer die jüngeren Geschwister, die sie störten. Der Wald war friedlich. Hier konnten sie einander in Ruhe erforschen.
»Ich haben Decke im Rucksack.« Antonio lächelte ihr schief zu, und sie musste über sein Dänisch lachen, während sich ein kribbelndes Gefühl in ihrem Körper ausbreitete. Antonio war so romantisch im Gegensatz zu den Jungen, die sie bisher gekannt hatte. Er machte ihre Treffen immer zu etwas Besonderem, überraschte sie. Oft spürte sie die neidischen Blicke ihrer Freundinnen. Wenn sie ihnen ein Gedicht zeigte, das er für sie geschrieben, ein filigranes Armband aus seiner Heimat, das er ihr geschenkt hatte oder wenn sie von ihrem letzten Stelldichein
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