Todesspur
gesehen?«, will Fernando von Luis wissen.
»Nein. Ich war den ganzen Abend in meinem Zimmer, am Rechner.«
»Hast du gespielt?«
»Was aus dem Internet gesucht für ein Referat in Politik.«
Jule wendet sich an das zweite Mädchen, das bis jetzt noch gar nichts gesagt hat, jedoch seit geraumer Zeit an dem silbernen Ring dreht, der ihren rechten Daumen ziert. »Gwen Fischer«, haucht sie auf Jules Nachfrage und gibt ihr Alter mit »bald fünfzehn« an. Sie ist eine Klassenkameradin von Luis und Fiona. Von deren Schlampenlook scheint Gwen indessen nichts zu halten. Im Gegenteil, sie trägt Jeans und darüber ein violettes Kapuzensweatshirt, das ihr mindestens zwei Nummern zu groß ist. Ihre Hände verkriechen sich immer wieder in den Ärmeln, und sie zieht das Sweatshirt hoch bis an ihr Kinn, als wolle sie sich wie eine Schildkröte in ihren Panzer zurückziehen. Dabei hat sie es nicht nötig, sich zu verstecken. Gwen Fischer ist ein moderner Audrey-Hepburn-Typ mit langen, dunklen Haaren und großen braunen Augen, die das filigrane Gesicht mit den apart geschwungenen Lippen beherrschen. Sie hat auf Schminke verzichtet, ihr Teint ist makellos, aber von geradezu vampirhafter Blässe. Fünf Jahre älter, und es gäbe für Fernando sicher kein Halten mehr, überlegt Jule. Denn abgesehen von ihrem sehr jugendlichen Alter passt Gwen Fischer gut in das Beuteschema ihres Kollegen, der sich heimlich Bollywoodfilme ansieht und auf den entsprechenden Frauentyp abfährt.
»Was verbindet euch beide mit Olaf Döhring?«, fragt Fernando die beiden Mädchen, wobei er sich bemüht, nicht auf Fionas Beine zu sehen, die sie nun unter dem Stuhl verknotet hat. Gwen dagegen wippelt unaufhörlich mit ihrem rechten Knie auf und ab, was wiederum Jule zum Wahnsinn treibt.
»Wir sind der Chor«, verkündet Fiona stolz.
»Welcher Chor?«
Es stellt sich heraus, dass Florian Wächter, Cornelius Seifert, Valentin Franke und Olaf Döhring Mitglieder einer Band sind. Florian spielt Klarinette und Keyboard, Valentin ist der Trompeter, Cornelius spielt E-Gitarre und singt, und Olaf war der Schlagzeuger.
»Ein Stück singe ich auch solo«, erklärt Fiona stolz, ehe sie die drei männlichen Bandmitglieder erschrocken ansieht und fragt: »Mein Gott, was wird denn jetzt aus unserem Auftritt?«
»Das ist doch jetzt nicht wichtig«, wehrt Cornelius schroff ab.
»Na jaaa«, meint Florian Wächter gedehnt. »Sie hat recht. Immerhin haben wir dafür ganz schön lang geprobt.«
»Habt ihr keine anderen Probleme? Olaf ist tot, verdammt!«, faucht Cornelius.
»He, jetzt chillt mal, Kinder«, mahnt Valentin, und Cornelius sagt mit Blick auf die beiden Kripobeamten: »Lasst uns das später klären.«
Jules nächste Frage drängt sich nun geradezu auf. »Habt ihr Verbindung zum Musikzentrum in Vahrenwald?«
Kurzer Blickwechsel, bei dem offenbar Cornelius als Sprecher auserkoren wird. »Ja, wir haben bei Showbox mitgemacht.«
Die beiden Ermittler erfahren, dass Showbox ein einwöchiger Workshop ist, bei dem Nachwuchsbands auf ihre Bühnenkarriere vorbereitet werden. Dabei geht es nicht in erster Linie um die musikalischen Qualitäten – die werden vorausgesetzt –, sondern um den visuellen Eindruck, die Performance auf der Bühne.
»Davor machte jeder von uns auf der Bühne mehr oder weniger, was er wollte, total unkoordiniert. Das ist anders geworden. Jetzt haben wir für jedes Stück eine eigene Choreografie. Die Show, die man abzieht, ist nämlich mindestens so wichtig wie der Sound. Aber mit Auftritten allein ist es nicht getan, man braucht auch eine vernünftige Internetpräsenz – Videoclips vor allem – und eine Plattform für die Fans: Facebook, Newsletter, Fotos zum Download für die Presse, all solche Dinge. Ohne die geht man nämlich in der Masse hoffnungslos unter.« Cornelius Seifert beschließt seinen Vortrag mit einem ernsthaften Nicken.
»Wir haben auch Interviewtraining bekommen«, fügt Florian Wächter hinzu.
»Und das Posen für Fotoshootings geübt.« Fiona Kück zupft an ihrem BH -Träger.
Eine Stilberatung wäre dringender gewesen, findet Jule. Oder eine strengere Mutter.
»Nur drei Bands durften an diesem Coaching teilnehmen, wir wurden von der LAG Rock dafür ausgewählt«, berichtet der Trompeter Valentin und reckt dabei selbstbewusst das Kinn in die Höhe.
» LAG Rock bedeutet Landesarbeitsgemeinschaft Rock, die gibt es schon seit über zwanzig Jahren«, erklärt Cornelius ungefragt.
»Wie heißt eure Band
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