Todesspur
sage’, dass der Termin um eine Schtunde vorgezogen worden ischt.« Er zwinkert Jule schelmisch zu, während Stevens die Nüstern bläht wie ein Rennpferd vor dem Start. Seine Nase ist schmal und etwas schief, was man nur bemerkt, wenn man genau hinschaut.
Wenigstens kann Jule im folgenden Dialog mit ihrem ausgeprägten medizinischen Fachwissen und dem dazugehörigen Medizinerlatein glänzen. Auch die ›Hutkrempenregel‹, nach der man feststellt, ob jemand gestürzt ist oder erschlagen wurde, ist ihr ein Begriff. Die Obduktion hat den Eindruck ihrer ersten Inaugenscheinnahme des Leichnams bestätigt: Olaf Döhring wurde durch zwei Schläge mit einem stumpfen Gegenstand getötet. Der erste traf den Hinterkopf. Der Täter war entweder deutlich größer als der eins achtzig große Olaf, oder er wurde im Sitzen von einer schräg hinter ihm stehenden Person angegriffen. »Der Täter war ein Rechtshänder«, schlussfolgert Dr. Bächle aus der Lage der Wunde. Der zweite Schlag zertrümmerte das Schläfenbein und wurde vermutlich ausgeführt, als das Opfer schon am Boden lag. Am Schädelknochen haften Partikel von Eisen, die das Labor noch genauer untersuchen wird. »Es könnt’ ein recht großer Hammer oder so ebbes g’wese’ sei’«, erklärt Dr. Bächle dazu.
»Welcher Schlag war todesursächlich?«, fragt Jule.
»Im Grunde beide. Es ischt möglich, dass er nach dem erschten auf das Scheitelbein nicht sofort tot war, aber nach dem zweiten ganz beschtimmt.«
Eine weitere Erkenntnis ist, dass der Fundort nicht der Tatort ist. Als die Leichenstarre einsetzte, befand sich der Körper nicht in der Lage, in der man ihn gefunden hat. Jule sieht sich die Fotos, die sie am Fundort von dem Toten gemacht hat, erneut an. Das obere Bein hat gar keine Bodenberührung, es sieht aus wie eine anstrengende gymnastische Übung. »Als hätte man ihn einfach so hingeworfen«, murmelt sie.
»Darf ich?«, fragt eine Stimme hinter ihr. Stevens schaut über ihre Schulter, Jule kann sein Eau de Toilette riechen. Wenigstens das ist ganz erträglich.
»Aber gern.« Sie überlässt ihm bereitwillig das Handy.
»Danke. Sehr aufschlussreich«, bemerkt er, nachdem er es ihr zurückgegeben hat.
»Freut mich, dass ich Ihnen helfen konnte.«
Hendrik Stevens’ Mundwinkel zucken ganz leicht, so als wollte er lächeln und hätte es sich im allerletzten Augenblick doch noch anders überlegt. Hoffnungsloser Fall! Jule wendet sich wieder an Dr. Bächle: »Wie lange hat die Leiche gelegen, ehe man sie bewegt hat?«
»Des kann i ned seriös beantworten«, lautet die Auskunft des Mediziners. »Selbscht wenn sich schon Livores , also Leichenflecken, gebildet haben, so bilden sich diese leider wieder zurück, wenn der Körper umgelagert wird«, doziert Bächle in leidlichem Hochdeutsch, um das er sich immer dann bemüht, wenn es um fachliche Fragen geht.
»Können Sie den genauen Todeszeitpunkt angeben, Dr. Bächle?«
»Ich weiß nur: Die letschte Mahlzeit wurde eine bis anderthalb Schtunden vor Todeseintritt eingenommen. Ich tippe auf Pizza.«
Steven räuspert sich und sagt mit unterkühltem Tonfall: »Da ich das alles schon einmal gehört habe, verabschiede ich mich jetzt.«
Darüber ist im Sektionssaal niemand traurig, aber Jule hält den Staatsanwalt, der schon an der Tür ist, dennoch zurück. »Herr Stevens, noch eine Bitte: Ich hätte gerne Einsicht in die Akten der jugendlichen Intensivtäter, die in Hainholz und Umgebung in letzter Zeit auffällig geworden sind. Die Zeitungen haben darüber berichtet, Sie wissen sicher Bescheid.«
Er stutzt. Wahrscheinlich liest er keine Krawallpresse und hat keine Ahnung, wovon die Rede ist. Aber er ist nicht der Typ, der das zugibt, vermutet Jule.
»Ich werde das veranlassen, Frau Wedekin. Es gibt doch sicherlich heute noch ein Meeting in Ihrem Dezernat?«
»Besprechungen setzt mein Chef, je nach Notwendigkeit, kurzfristig an. Aber ich sage ihm, dass er Sie informieren soll, falls es eine gibt. Ihre Nummer hat er?«
Dem Neuen scheint diese Antwort nicht so recht zu gefallen, er knurrt etwas Unverständliches und macht sich mit einem knappen »Wiedersehen, die Herrschaften« vom Acker.
»Tschüss!«, ruft Jule frech, und Dr. Bächle winkt: »Adele!«
Beide sehen ihm nach. Dann, als die Tür des Sektionssaales hinter ihm zufällt, kreuzen sich ihre Blicke.
»Arroganter Pinsel«, murmelt Jule, und Bächle meint: »Schoofseggl.«
Fernando nimmt den Motorradhelm ab, schüttelt sein Haar auf
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