Todesspur
der Rhythmus des Spielers sitzt, dürfen die anderen unterstützend oder mit Variationen einfallen. Begeistert und konzentriert trommeln die Kinder, und wer gerade keine Trommel hat, klatscht den Rhythmus. Es scheint ihnen großen Spaß zu machen. Nur wenige Male muss der Lehrer mahnend eingreifen, weil sie reden oder absichtlich falsch trommeln. Einmal reicht ein scharfer Blick, um den Lachanfall eines Mädchens zu stoppen. Oumra kennt die Namen aller seiner Schüler, in denen, abgesehen von den beiden Mohammeds, viele Ös und Üs vorkommen. Sind das die Integrationsverweigerer, fragt sich Fernando, die Kinder jener Parallelgesellschaft, die permanent durch die Medien geistert, die Opfer der deutschen Bildungsmisere?
Als die Stunde zu Ende ist und die Kinder aufspringen, steht auch Fernando auf. Er stellt sich sicherheitshalber vor die Tür und ruft: »Einen Moment bitte noch, ich habe euch etwas zu sagen. Ich bin Oberkommissar Fernando Rodriguez von der Mordkommission … « Auch wenn das nicht die korrekte Bezeichnung seines Dezernats ist, so hofft Fernando, dass dieser Begriff sowohl verständlich ist als auch Eindruck macht. Bei Erwachsenen funktioniert das meistens. Es scheint auch jetzt so zu sein. Die Kinder verharren auf ihren Plätzen, nur ein Junge schnaubt vorlaut: »Ii, ’n Bulle!«
»Ihr habt vielleicht schon gehört, dass heute Morgen ein Jugendlicher in der Emil-Meyer-Straße – das ist die Straße, die zum Musikzentrum führt – tot aufgefunden wurde. Wie es aussieht, wurde der Junge gestern Nacht ermordet …«
»Wie hat man den abgemurkst?«, unterbricht einer der Jungs. Er dürfte etwa zwölf sein und sieht Fernando aus pechschwarzen Augen gespannt an.
»Abgeknallt – peng!«, ruft einer, und ein etwas älterer meint: »Nö, abgeschlachtet, mit ’nem Messer.«
»Er wurde erschlagen«, korrigiert Fernando.
»Cool«, meint ein Dicker mit Topffrisur.
»Das ist überhaupt nicht cool, Mann!«, herrscht Oumra den Sprecher an. »Ein Junge ist tot, er war so alt wie dein Bruda, was ist daran cool, hä? Los, sag’s mir!« Die Augen des Lehrers scheinen fast aus den Höhlen zu quellen, als er streng in die Runde blickt.
Die Kinder ziehen die Köpfe ein und verstummen. Fernando kramt in seiner Brieftasche und zieht einen Packen Visitenkarten hervor, die er verteilt mit den Worten: »Falls jemand von euch oder jemand aus eurer Familie etwas gesehen oder gehört hat, dann ruft mich bitte an.«
Man entreißt ihm die Visitenkarten mit dem roten Niedersachsenpferd als wären es Panini-Bildchen. Einige haben offenbar Mühe, das Gedruckte zu lesen. Aber dann klappt es doch: »Kok! Der heißt Kok!«
Einer, offenbar mit Französischkenntnissen, kräht wie der französische Coq . Ein anderer schreit: »Ey, der heißt Schwanz. Cock heißt Schwanz!«
»Nee, das heißt Hahn!«, beharrt der Frankophile.
»Ey, und deine Mutter bellt, wenn’s klingelt! Cock ist englisch und heißt Schwanz!«
»Und deine Mutter … «
»Der heißt wirklich Pimmel?«, mischt sich ein Dritter in den Diskurs. »Ist ja voll fett!«
» K . O . K . ist eine Abkürzung für Kriminaloberkommissar.« Fernandos Erklärung geht im Gelächter unter. Er knirscht mit den Zähnen. Es wird wirklich höchste Zeit für eine Beförderung!
Ein Mädchen, zehn oder elf, dunkle Locken bis zur Taille, stupst ihn an und fragt: »Kann ich ein Autogramm haben?«
Verarscht sie ihn? Ihr Blick ist eine Mischung aus Scheu und Koketterie. Fernando nimmt die Karte, malt seinen Namen in Schönschrift auf die Rückseite und gibt sie dem Mädchen zurück, gefasst auf einen dummen Spruch, aber die Kleine strahlt und eilt zu ihren Freundinnen, die hinter vorgehaltenen Händen kichern. Die Jungs haben unter obszönen Scherzen und Gelächter den Rückzug angetreten.
Was für eine blöde Idee von ihm! Was sollten die Kinder schon gehört oder gesehen haben? Anständige Kinder schlafen nachts, und die anderen werden den Mund halten, oder dachte er etwa, dass einer auf ihn zukommt und sagt: »Mein großer Bruder ist gestern blutüberströmt nach Hause gekommen«? Außerdem gehören fast alle Kulturkreisen an, in denen das Gesetz der Omertà gilt. Selbst wenn sie was mitkriegen, werden sie es unter keinen Umständen einem Bullen stecken.
Der Kursleiter hat sich eine senffarbene Lederjacke angezogen und ist zum Gehen bereit. Er hält dem Kommissar sogar die Tür auf und schließt dann den Probenraum ab. Fernando folgt ihm den Flur entlang und die Treppe
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