Todesspur
eine Katze. Offenbar hat er ihre Gedanken gelesen, denn nachdem er ihr einen guten Morgen gewünscht hat, sagt er: »Ich stelle mich noch so lange schlafend, bis deine Tochter aus dem Haus gegangen ist, einverstanden?«
Oda lächelt und nickt. Manchmal ist er ihr geradezu unheimlich, ihr ›Wunderheiler‹, wie sie ihn in Gedanken noch immer nennt. Oder bin ich so durchschaubar? Nein, Unsinn, weder noch, das ist keine Magie, das ist einfach ein gewisser Sinn für Anstand und Einfühlungsvermögen, von dem Tian Tang tatsächlich eine Menge besitzt. Das macht ihn ja so angenehm. Dennoch ist er keiner dieser nervigen, opportunistischen Frauenversteher. Tian hat durchaus seinen eigenen Kopf, und über manche Themen lässt sich mit ihm herrlich streiten. Zum Beispiel über das Rauchen.
Oda rafft ein paar Kleidungsstücke zusammen und steuert das Bad an. Die Tür ist abgeschlossen, was ungewöhnlich ist. Veronika hat also doch gemerkt, dass ihre Mutter nicht alleine nach Hause gekommen ist. Waren sie zu laut?
Notgedrungen sucht Oda die winzige Gästetoilette neben der Eingangstür auf, und als sie wenig später in der Küche die Kaffeemaschine in Gang setzt, hört sie Schritte auf der Treppe, die zur Galerie hinaufführt. Ungewohnte Schritte. Sie geht nachsehen. Ein junger Mann, den Oda noch nie zuvor gesehen hat, federt die Stufen hinab. Seinen Rucksack hat er lässig über die Schulter geworfen. »Guten Morgen«, grüßt der fremde Gast, strebt dann rasch zur Eingangstür, und schon ist er weg. Oben huscht Veronika ins Bad.
Oda klappt ihren Mund wieder zu und deckt den Frühstückstisch für zwei. Wenig später poltert ihre Tochter die Treppe hinab, macht sich einen Espresso und meint, nachdem sie ihn rasch hinuntergekippt hat, sie habe keine Zeit für ein Frühstück, sie sei spät dran. »Mach’s dir mit Tian gemütlich, Mama.«
Als Veronika nach ihren Schuhen sucht, sie nach ausgiebigem Schuhschranktürengeklapper schließlich findet und sich die Schulmappe unter den Arm klemmt, kann sich Oda nicht länger zügeln: »Sag mal, wer war der junge Mann, der mir da eben begegnet ist?«
»Dennis«, antwortet Veronika und winkt im Hinausgehen ab. »Musst du dir aber nicht merken.«
Völxen parkt seine geliebte DS in der Knochenhauerstraße vor dem Café Kränzchen , das an der Rückseite der Kreuzkirche liegt, wohl wissend, dass er mit der gelben Umweltplakette eigentlich gar nicht in die Innenstadt fahren dürfte. Er steigt aus und nimmt Oscar an die Leine. Den Hund musste er heute schon wieder mitnehmen, da Sabine diese Woche zusätzlich zu ihren eigenen Stunden an der Musikhochschule einen erkrankten Kollegen vertreten muss. Und mit Wanda ist ab sofort ja nicht mehr zu rechnen. Aber irgendwie kann man sich an das Vieh auch gewöhnen, denkt Völxen und sagt: »Benimm dich, ja? Sonst kommst du ins Auto!« Eine leere Drohung, denn Völxen würde den Hund niemals unbeaufsichtigt im Wagen lassen, aus Angst um das Interieur der französischen Staatskarosse.
Rund um die Kirche ist schon reger Betrieb: Streifenwagen, Spurensicherung, ein paar Schaulustige hinter dem rotweißen Band. Er erkennt den Reporter Boris Markstein von der BILD -Hannover. Der scheint so gut wie nie zu schlafen. Auch der Leichentransporter der Rechtsmedizin ist schon da, der Notarzt hingegen rückt soeben wieder ab.
Rolf Fiedler kommt auf Völxen zu und wünscht ihm einen guten Morgen, ihm folgt Jule Wedekin, die sofort hervorsprudelt: »Ich habe hier seinen Ausweis, er war im Portemonnaie. Der Tote heißt Nikodemus Riepke, geboren am 20 . November 1952 in Hannover, wohnhaft in Vahrenwald …«
»Und dabei dachte ich immer, ich hätte einen komischen Vornamen«, wirft Völxen ein.
»… und das hier ist wohl sein Handy. Das lag etwa zwei Meter neben ihm.« Es ist ein einfaches Nokia aus Zeiten, in denen mit Mobiltelefonen ausschließlich telefoniert wurde. »Ich habe den Namen von der Einsatzzentrale checken lassen, er hat drei Vorstrafen, Zuhälterei und Körperverletzung, die letzte ist aber schon acht Jahre her«, berichtet Jule weiter.
»Ja, ab fünfzig werden die Herren ruhiger«, seufzt Völxen. »Angehörige?«
»Nichts bekannt. Diese Straße, in der er wohnt – Auf dem Dorn –, das ist hinter dem Musikzentrum. Ganz in der Nähe von … « Jule, Völxen und Oscar wenden sich um, als ein gackerndes Lachen über den Kirchplatz schallt. Zwei Damen in pobackenkurzen Röcken und hochhackigen Stiefeln stehen rauchend vor dem Café,
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