Todesspur
Kontrastprogramm vor, die Kaschemme auf der anderen Straßenseite, das Columbus . Wer dort auf den Barhockern rumhängt, gehört garantiert nicht zu den oberen Zehntausend. Aber der Typ meinte ziemlich von oben herab, er würde sich auf gar keinen Fall im Rotlichtviertel mit ihm treffen, egal in welchem Lokal. In Nikos Augen eine völlig übertriebene Sorge. Das Steintorviertel ist schließlich nicht die Herbertstraße! Ja, klar, es gibt dort die Striplokale und die Bordelle, aber es ist auch ein Amüsierviertel für die Allgemeinheit. In den vielen Klubs dort verkehrt schon seit Jahren die Spaßgesellschaft, und längst nicht jeder, der da langgeht, kommt aus einem Puff. Muss ja ein ganz schön verklemmter Typ sein, jedenfalls sehr auf seinen guten Ruf bedacht. Ein Landtagsabgeordneter vielleicht? Sonst irgendwie bekannt in der Stadt? Wahrscheinlich. Aber Nutten auf der Straße aufgabeln und dann nicht zahlen, das hat man gern!
Niko steht vor dem Portal der Kreuzkirche, flucht und tritt ungeduldig von einem Bein aufs andere. Er hätte sich nicht auf diesen Scheißtreffpunkt »vor der Kreuzklappe « einlassen sollen, hier zieht es wie Hechtsuppe um das mächtige Kirchengemäuer. Eigentlich mag er diesen ruhigen Platz, der in unmittelbarer Nachbarschaft zum Steintor-Kiez liegt. Zwei Welten, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten: im Kiez die Leuchtreklamen, die Partygänger, die Clubhopper , die Nutten, die Freier, die Neugierigen, die Leute, die Geschäfte zu erledigen haben, die nach Diskretion verlangen, und ein paar Schritte weiter kaum Menschen, nur die stille, stolze Erhabenheit des alten Kirchenbaus, umgeben von Häusern wie aus Lebkuchen, die dem Gotteshaus ganz nah auf die Pelle rücken. Am Kopfende der Kirche liegt die Kreuzklappe , ein Lokal, in dem man schon im Mittelalter gesoffen hat. Dazwischen war es mal ein beliebter Treffpunkt von SA - und SS -Leuten gewesen, und heute ist da ein Türke drin. Im Sommer stehen Tische draußen, es gibt dann kaum ein lauschigeres Plätzchen in der Innenstadt. Aber jetzt sitzt da niemand, dafür ist es schon zu kalt.
Die Tür geht auf, zwei kichernde Pärchen kommen heraus und verschwinden in Richtung Altstadt. Ein heller Glockenschlag ertönt aus siebzig Metern Höhe. Er wird sofort beantwortet von dem dumpferen Schlag der größeren Marktkirche. Zwei Kirchen, die nicht einmal einen Kilometer voneinander entfernt stehen, beide aus dem Mittelalter. Was haben sich die Leute damals nur dabei gedacht? Niko stöhnt genervt auf. Viertel nach elf. Der kommt nicht mehr, der hat mich verarscht, oder er hat Muffe gekriegt. Dabei sollte er lieber Muffe haben, wenn er nicht zahlt. Niko beschließt, vorsichtshalber noch einmal die Kirche zu umrunden. Nicht, dass der dämliche Kerl auf der anderen Seite wartet. Er geht am Café der evangelischen Studentengemeinde vorbei. Alles dunkel da drin. Brave christliche Studenten liegen um diese Zeit wohl schon im Bett – oder sitzen in einer anderen Kneipe. Auf der Ostseite ragt die schnörkelige Duve-Kapelle aus dem ansonsten nüchtern gehaltenen Kirchenbau hervor. Eine Kapelle in einer Kirche, wo gibt’s denn das?, hat sich Niko schon öfter gedacht, sich aber nie die Mühe gemacht, die steinerne Inschrift an der Grabkapelle zu lesen. Davor ist noch Platz für einen sehr kleinen Kirchhof: eine Handvoll alter Grabsteine, die bemoost und windschief aus dem Rasen ragen, umgeben von einer hüfthohen, dornigen Hecke. Eine altmodische Laterne beleuchtet die Szenerie, die an die Kulisse eines Vampirfilms erinnert. Es nieselt schon wieder, das Pflaster ist glitschig, er muss aufpassen, dass er nicht ausrutscht mit seinen dünnen Sohlen. Von der zu erwartenden Kohle wollte er sich endlich mal wieder anständige Schuhe kaufen. Einen gepflegten Mann erkennt man vor allen Dingen an seinen Schuhen, das hat ihm mal eine Hure verraten.
Auch hinter der Kirche, vor dem Café Kränzchen , ist kein Mensch zu sehen. Der Vollständigkeit halber geht Niko auch noch an der Westseite der Kirche entlang. Eine Mauer umfasst hier einen winzigen gepflasterten Hof. Scheißdunkel hier. Was ist das? Ist der Kerl doch noch gekommen? An einem Mauervorsprung mit einer Treppe, die zu einem Seiteneingang führt, steht eine Gestalt. Es ist ein Mann, er trägt einen langen Mantel und einen Hut, den er tief ins Gesicht gezogen hat, wie in einem Agententhriller. Er schaut sich nervös um, dann kommt er langsam auf Niko zu. Irgendetwas an seiner Haltung gefällt Niko
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