Todesstatte
trinken?«
Doch Murfin trank sein Glas aus. »Nein, danke. Entschuldige, dass ich dich damit belästigt habe, Ben. Ich gehe jetzt nach Hause.«
»Alles in Ordnung mit dir?«
»Schon okay. Hey, was ist eigentlich mit deinem Date? Was ist daraus geworden?«
»Ich habe es verschoben. Diese Woche ist einfach zu viel los.«
»Schade. Wird sie dir das nicht übel nehmen?«
»Nein«, sagte Cooper. »Das wird sie schon verstehen.«
Er wartete mit Murfin, bis ein Taxi kam, das diesen nach Hause brachte, dann ging er zurück zu seiner Wohnung. AuÃerhalb des Stadtzentrums war es auf den StraÃen sehr ruhig. Cooper wusste, dass auch er sich eines Tages mit seinem eigenen Tod würde auseinandersetzen müssen. Wie die meisten Menschen glaubte er, das auf unbestimmte Zeit hinausschieben zu können. Und vielleicht hatte er zu viele Geschichten gelesen, in denen Menschen nicht wirklich starben. Stattdessen schieden sie dahin, taten ihren letzten Atemzug oder verlieÃen diese Erde. Im Gespräch wurde der Tod rasch abgehandelt, als bewegte man sich auf dünnem Eis, das man schleunigst wieder verlassen wollte.
Manchmal spürte er dieses dünne Eis unter den FüÃen und vermied es, einen Blick nach unten zu werfen. Unmittelbar unter der Oberfläche befand sich zu viel dunkles Wasser.
MEIN TAGEBUCH DER TOTEN, PHASE DREI
So sieht also die Realität aus: Der Tod verändert Menschen. Die Muskeln werden schlaff, und die Schwerkraft zieht die Haut nach unten. Die Wangen fallen ein, und die Augenhöhlen werden tiefer. Unser Fleisch bildet neue Konturen, so wie die Ebbe versunkene Inseln freilegt. Der Körper kühlt aus, unsere GliedmaÃen schrumpfen. Das Blut flieÃt nach unten, wenn die Erde beginnt, uns an sich zu ziehen. Dann verfärbt sich die Haut von rot zu violett, von grün zu schwarz. Unsere letzte Verwandlung ist eineVorstellung in Technicolor.
Sobald das Herz aufhört zu schlagen und die Zellen nicht mehr mit Sauerstoff versorgt werden, erklären wir eine Person für tot. Das Gehirn mag vielleicht sterben, doch der Körper stirbt noch nicht â nicht wirklich. Unsere Eingeweide sind voll gepackt mit Mikroorganismen, mit Verdauungsenzymen und Bakterien, die nicht mit den Zellen absterben.Was tun unsere Organe, wenn diese Enzyme nichts mehr zu verdauen haben? Sie beginnen, sich selbst zu verdauen. Letzten Endes werden wir zu unseren eigenen Fleischverzehrern.
Die Verwesung. Das klassische Schauspiel in zwei Akten. Doch der letzte Akt zieht sich zu lange hin. Das Fleisch löst sich langsam von den Knochen, Stück für Stück, Fetzen um Fetzen. Das Picken eines Schnabels, das Nagen eines Insekts, der langsame Zerfall. Es gibt kein grandioses Finale, kein spektakuläres Ende. Unser Abgang wird nicht von einem Knall begleitet; nicht einmal ein Wimmern ist zu hören. Nur ein Schrei in der Nacht, der ungehört verklingt.
19
A uf dem Weg nach Cressbrook am nächsten Morgen sah Ben Cooper das Kuppeldach der alten Spinnerei im Sonnenlicht funkeln. Hier hatte einst eine Glocke die Arbeiter aus ihren Cottages in der Apprentice Row zur Arbeit gerufen. Das sollte jedoch der letzte Sonnenstrahl sein, den er an diesem Vormittag zu sehen bekam. Noch bevor er bei der Spinnerei ankam, hatte sich die Wolkendecke wieder geschlossen, und der Regen kehrte zurück.
Die StraÃen hier unten waren alle einspurig, und nur an einigen Stellen waren Ausweichbuchten in die Böschung gegraben worden, damit zwei Autos vorsichtig aneinander vorbeifahren konnten. Das verlangte natürlich nach einem hohen Maà an Rücksicht bei den Fahrern. Doch solange keine Touristen in den Ausweichbuchten parkten, um Fotos zu machen, funktionierte diese Regelung problemlos.
Cooper stellte erfreut fest, dass die beiden ehemaligen Spinnereien in diesem Teil des Wye Valley nach Jahren der Verwahrlosung zu schicken Wohnanlagen umgebaut worden waren. Die Entfernung zwischen den zwei Spinnereien betrug nur etwa eine Dreiviertelmeile oder etwas mehr, wenn man den Windungen und Wehren des River Wye folgte. Die Litton Mill, die sich ein Stück flussaufwärts befand, war im neunzehnten Jahrhundert, als sie sich noch im Besitz der Familie Needham befunden hatte, für die Ausbeutung von Kindern berüchtigt gewesen. Waisenkinder aus London waren zur Arbeit in der Spinnerei gezwungen worden, und durch Züchtigung und Misshandlungen waren so viele Kinder
Weitere Kostenlose Bücher