Todesstunde
Ärger war die Kamera eines Nachrichtensenders direkt auf meine Nasenwurzel gerichtet, als ich mich unters Absperrband vor dem GM-Gebäude hindurchduckte. Eigentlich konnte ich es den Sendern nicht übelnehmen, dass sie bereits am Tatort waren, denn immerhin schienen sie das Ziel der Attentate zu sein.
Als wären das Tiffany’s und die Fernsehsender nicht schon hochkarätig genug, befanden sich auf der anderen Seite des offenen Bereichs der weltberühmte FAO-Schwarz-Spielzeugladen und der irre Glaswürfel des Apple-Ladens auf der Fifth Avenue.
Der stellvertretende Leiter der Sprengstoffeinheit, Brian Dunning, kniete Kaugummi kauend an der südöstlichen Ecke der Kreuzung vor einer rußgeschwärzten Straßenlaterne. Am Grand Central Terminal hatte mir Cell erzählt, der blonde, pockennarbige Techniker sei gerade erst aus dem Irak gekommen, wo er einem sehr ausgelasteten Bombenräumkommando angehört hatte. Da sich New York im Moment im Kriegszustand zu befinden schien, war ich froh, dass er sich uns angeschlossen hatte.
In dem umgekippten Mülleimer neben ihm prangte ein Loch in der Größe einer Pampelmuse. Was sich auf dem Bürgersteig und der Straße verteilt hatte, erinnerte mich an die Knallfrösche, die am Tag nach dem 4. Juli gezündet wurden. Ich hob etwas davon auf, um es mir genauer anzusehen.
»Das ist Pappe«, erklärte Dunning und richtete sich wieder auf. »Von einem Kaffeebecher, vermute ich. Was in einem Mülleimer überhaupt nicht auffällt. Ideale Verkleidung, um einen improvisierten explosiven Apparat völlig harmlos wirken zu lassen.«
»Hat er wie beim letzten Mal Plastiksprengstoff verwendet?«, fragte ich.
Dunning roch an dem Stück Pappe. »Dynamit, würde ich spontan sagen. Vermutlich eine Stange. Auslösung per Mobiltelefon mit elektrischem Zünder und Sprengkapsel, die sauber und ordentlich in einem Kaffeebecher verstaut wurden. Dieser Polizistenmörder und Spinner kennt sich aus, das muss ich ihm lassen.«
Prima! Unser Kerl verwendete neues Material. Oder vielleicht auch nicht, dachte ich und stieß den Atem aus. Es könnte sich um jemand anderes handeln, der auf den fahrenden Zug aufspringt.
Weitere Fragen ohne Antworten. Wenigstens das war mir vertraut.
Ich ging zu meiner Chefin, die mit einer Gruppe aufgewühlter Mitarbeiter der Early Show sprach.
»Niemand scheint irgendwas gesehen zu haben, Mike«, berichtete Miriam, als wir um die Ecke bogen. »Hier auf dem Plaza gibt es jede Menge Sicherheitsvorrichtungen, aber der Fußgängerverkehr wird nicht überwacht. Die Stadtreinigung hat gesagt, sie hätten den Müll heute Morgen um fünf Uhr eingesammelt. Unser Typ muss den Kaffeebecher also irgendwann danach hineingeworfen haben, wahrscheinlich noch vor Sonnenaufgang.«
»Er ahmt nicht nur diesen Sam nach«, erklärte ich ihr die doppelte Nachahmertheorie, auf die Emily und ich gekommen waren. »In den Vierzigern platzierte der verärgerte Con-Ed-Mitarbeiter George Metesky Bomben in Kinos und an öffentlichen Plätzen. Sechzehn Jahre lang ließ er mit Schießpulver gefüllte Rohrbomben an denselben Orten hochgehen, die sich unser Typ ausgesucht hat. Bibliothek, Rockefeller Center, Grand Central Station. Es passt.«
Sie trat vom Bürgersteig auf die Straße. Von dort blickten wir einen Moment lang die Fifth Avenue entlang zum Empire State Building. »Sie meinen also, dieser Kerl ist nicht irgendein hundsgewöhnlicher gewalttätiger Spinner?«, vergewisserte sie sich.
Ich nickte. »Ich denke, wir haben es mit einem sehr kompetenten und sehr bekloppten Kenner zu tun, der seinen Vorbildern seine Referenz erweist«, sagte ich.
34
Den Rest des Tages besuchte ich die anderen Tatorte am Rockefeller Center und am Times Square, wo ich nichts Neues erfuhr. Niemand am Times Square hatte einen Mann gesehen, der einen Kaffeebecher abgestellt hatte, nicht einmal der Nackte Cowboy.
Die gesamte Abteilung für Kapitalverbrechen bekam entzündete Augen bei der Durchsicht der Aufzeichnungen der Sicherheitskameras der umliegenden Geschäfte und Gebäude, doch bisher hatten sie nichts gefunden. Dasselbe Ergebnis erbrachten die mit höchster Priorität durchgeführten forensischen Tests an dem Brief, den der Mörder im Wagen des Professors hinterlassen hatte. Es gab einen kurzen Moment der Hoffnung, als ich erfuhr, dass man die Fahrgestellnummer des Lkws, der vor dem Grand Central Terminal in die Luft geflogen war, gefunden hatte. Die Hoffnung zerplatzte allerdings rasch: Es handelte sich um
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