Todesstunde
Kirchenknabe?«
»Arthur Schopenhauer«, antwortete ich mit einem gespielten Gähnen.
Emily hob eine Augenbraue. »Du liest Schopenhauer?«
»Ja, am Strand«, sagte ich.
Ich duckte mich, um der leeren Wasserflasche auszuweichen. In dem Moment kam meine Chefin aus ihrem Büro.
»Sie wurde gefunden«, sagte Miriam. »Paulina Dulcine. Ihr müsst zur 59th Street Bridge fahren.«
Sie lag unter der Brücke, in deren Nähe sich eine Tankstelle befand. Wir bogen auf eine kleine Zufahrtsstraße ab und fuhren zum East River hinunter. Am Ende eines Parkplatzes neben einem verlassenen Hubschrauberlandeplatz war Absperrband um einen Maschendrahtzaun gewickelt worden.
Hinter dem Zaun tummelten sich ein halbes Dutzend Polizisten am felsigen Ufer. Auf dem Weg, der unter der Brücke hindurch verlief, hatten sich Schaulustige zusammengefunden, darunter ein Zwölfgang-Radfahrer in voller Montur neben einer Gruppe schnatternder jamaikanischer Kindermädchen, die über ihre teuren Kinderwagen lehnten. Sie wirkten gelangweilt, als warteten sie darauf, dass endlich etwas passierte.
»Wie wurde der Fall gemeldet?«, fragte ich einen großen, verschmitzt dreinblickenden jungen Uniformierten, der das Tatortbuch verwaltete.
»Anruf vom Münztelefon aus«, antwortete er.
»Erstaunlich«, wunderte ich mich.
»Dass jemand den Mord gemeldet hat?«, fragte der Polizist.
»Dass jemand in Manhattan ein funktionierendes Münztelefon gefunden hat.«
Die Lust auf Witze war Emily und mir schon längst vergangen, als wir zum abgesperrten Bereich am Ufer hinunterstolperten. Ein stämmiger Uniformierter kniete neben einem Farbeimer, zwischen den Lippen eine Zigarette. Sein verwirrter, verzweifelter Blick hätte nicht beunruhigender sein können.
Die Sache versprach, nicht schön zu werden. Ich wollte nicht hinunterblicken. Ich wollte meiner Liste nicht noch einen Albtraum hinzufügen, nachdem ich schon so viele üble Dinge gesehen hatte.
Aber das war meine Aufgabe.
Also blickte ich hinunter.
Und wurde bis ins Mark erschüttert. Mein Verstand weigerte sich wahrzunehmen, was meine Augen sahen.
Im Eimer lag Paulinas Kopf. Ihr Gesicht war mit geöffneten, fast flehenden Augen himmelwärts gerichtet. Sie sah aus, als wäre ihr Körper in der Erde eingegraben worden oder als versuchte sie, durch ein Schiffsbullauge zu klettern, war aber stecken geblieben.
Dieser widerliche Spinner hatte den abgetrennten Kopf der jungen Frau in den Eimer gequetscht.
Emily trat zu mir und legte eine Hand auf meine Schulter.
»Wir müssen diesen Kerl schnappen, Emily«, sagte ich nach einer Minute des Schweigens.
Plötzlich zog Emily ihr iPhone heraus.
»Was hast du vor?«, fragte ich.
Sie tippte wild auf dem Bildschirm ihres Telefons herum, ohne mich weiter zu beachten. »Ich wusste es. Genau! Joel David Rifkin. Teile seines Opfers wurden am East River gefunden. Es heißt, genau hier. Der Kopf der Frau wurde abgetrennt und sauber in einen leeren Farbeimer gelegt.«
»Wer war Rifkin noch mal?«, fragte ich.
»Ein Serienmörder in den Neunzigern aus Long Island«, antwortete Emily. »Er wurde wegen des Mordes an neun Prostituierten verurteilt. Er erschlug sie mit einem schweren Gegenstand, dann erwürgte er sie und verstümmelte ihre Leichen. Manche behaupten, es wären fast zwanzig Opfer gewesen. Apt ahmt wieder einen Serienmörder nach.«
Ein Schatten zog über uns hinweg. Ich blickte auf. Es war die Roosevelt-Island-Tram. Die roten Waggons segelten gefährlich über dem dunklen Wasser durch die Luft.
»Vielleicht gab es eine seltsame Verbindung zwischen Berger und Apt«, dachte ich laut nach. »Eine Art Kult. Apt scheint programmiert zu sein. Berger hat ihn einer gründlichen Gehirnwäsche unterzogen.«
»Vielleicht ist das doch ganz gut«, sagte Emily, als wir zum Wagen gingen. »Wenn Apt herausfindet, dass Berger tot ist, wacht er vielleicht auf. Bekommt einen klaren Kopf.«
»Das können wir nur hoffen«, sagte ich, ohne Paulinas Gesicht aus meinem Gedächtnis löschen zu können.
83
Am späten Sonntagnachmittag lag ich auf der Terrasse meines nicht ganz so palastartigen Sommerhauses in Breezy Point. Schwimmbretter und aufgeblasene Schwimmhilfen in allen möglichen Formen und Farben lagen um mich verteilt, vom sonnengebleichten Geländer flatterten genauso viele Strandhandtücher wie Fahnen vor dem UN-Gebäude.
Ich war wieder in meinem Element, in meiner grünen Zone.
Trautes, chaotisches Strandheim, Glück allein.
Ich lag, mit meiner
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