Todesstunde
zu legen, Mary eine Pause zu gönnen und mit den Kindern an den Strand zu gehen. Ein Sturm schien heraufzuziehen, weil das Wasser besonders aufgewühlt war. Einige der grauen Wellen schwappten einen Meter fünfzig hoch, so dass auch einige Surfer die Gelegenheit nutzten, sich zu den Anglern zu gesellen.
Mindestens ein Dutzend Polizisten, Feuerwehrmänner und Typen, die bei Telefongesellschaften arbeiteten, hingen hier schief auf dem Wasser. New York City wäre der letzte Ort, der einem in Zusammenhang mit Surfen einfallen würde, doch wenn man mal herausgefunden hatte, wie so ein Brett in die U-Bahn passte, klappte das ganz gut.
Ich saß am Ufer und beobachtete die Kleinen, die im flachen Wasser herumtrieben und mit den Fersen nach Sandkrabben suchten, wie ich es ihnen gezeigt hatte. Ich erinnerte mich, dass ich es als Kind mit meinen vielen Cousins ebenso gemacht hatte.
Einmal war ein Sofa, ein leuchtend oranges Sofa aus den Siebzigern, mit einer riesigen Welle ans Ufer gespült worden wie das Ausstellungsstück einer Möbelhauskette. Ich erinnerte mich auch, wie ich stehen geblieben war, um die Concorde zu beobachten, die vom Kennedy Airport aus nach Europa gestartet war. Vielleicht habe ich dieses Ding weniger beobachtet als vielmehr voller Ehrfurcht darauf gestarrt und mir Mühe gegeben, nicht in die Hosen zu pinkeln, sobald der hohe, erschreckende, markerschütternde Schrei der Überschallmotoren bis an meine Ohren gedrungen war.
Ich drehte mich um zu den »bösen Jugendlichen«, wie Chrissy und ich die anderen Kinder nannten. Seamus war mit ihnen draußen im Wasser. Irgendwann schaffte es der über Siebzigjährige sogar, auf einem der Bretter stehen zu bleiben. Etwa eine Millisekunde lang. Mit einem nicht ganz doppelten Purzelbaum flog er durch die Luft, als eine Welle ihm einen Schlag auf seinen dürren Hintern versetzte und ihm ein würdiges Seemannsbegräbnis bescheren wollte. Die Rettungswacht drehte am Rad und blies in ihre Trillerpfeifen. Einen Moment später tauchte Seamus wieder an die Oberfläche, die Fäuste nach oben gereckt wie der Sieger beim Preisboxen.
Ich musste lachen. Einem Verrückten kann man nicht wehtun.
Ich gab Seamus ein Zeichen, an Land auf die Kinder aufzupassen, damit ich ihm zeigen konnte, wie man auf so einem Brett ritt. Was komisch war, weil ich absolut keine Ahnung hatte, wie das ging. Ich alberte auf dem Brett herum, bis es mir vom Meer geklaut wurde.
Statt dem Ding hinterherzuschwimmen, beschloss ich, mich so im Wasser zu bewegen, wie Gott es für meinen wunderbaren Körper vorgesehen hatte: im New-York-City-Freistil. Das heißt, bis eine böse Welle versuchte, mir auch meine Bermudas zu mopsen. Mit dem kleinen Zeh konnte ich sie gerade noch retten.
»Tja, Mr. Hose«, murmelte ich, während ich das Band fest verknotete.
»Probleme?«, fragte jemand.
Als ich aufblickte, sackte meine Kinnlade fast genauso tief, wie es meine Badehose zuvor getan hatte.
Mary Catherine war doch noch ans Meer gekommen. In einem Bikini. Einem neuen, roten Bikini, wie ich bemerkte. Ich kannte Marys gesamte Badegarderobe, und der Artikel, den sie fast nicht anhatte, war eindeutig neu. Als Detective war ich schließlich darauf geeicht, auf Einzelheiten zu achten.
Ich spielte den Lässigen, als wäre die Tatsache, dass sich mein Kindermädchen wie ein Pin-up-Girl gekleidet vor mir im Wasser tummelte, genauso aufregend, wie auf den Bus zu warten.
»Probleme?«, wiederholte sie, als sie blond, gebräunt und mit etwas rotem Stoff in der Größe von Muscheln bedeckt an mir vorbeischwamm.
Einen Moment später war sie in einer Welle verschwunden. Und auf dem Weg zurück nach Irland, wenn ich Glück hatte. Vielleicht war sie auch nur eine Meerjungfrau, die ins Meer zurückkehrte.
»Ich hole nur Luft«, sage ich schließlich.
85
Nach zwei Stunden Herumtoben im Salzwasser saß ich wieder in meinem Freiluftbüro, natürlich noch immer barfuß und mit noch immer nassem Haar. Doch ich trug Jeans und ein T-Shirt, und statt eines Biers trank ich einen riesigen Becher Kaffee mit Vanillegeschmack.
Trotz dieses Aufputschmittels brauchte ich eine Weile, um in die Gänge zu kommen. Zunächst musste ich damit kämpfen, ein paar unvergessliche Bilder aus meinem Kopf zu verbannen. Jedes Mal, wenn ich die Augen schloss, sah ich, wie Wasser von Marys Rücken hinablief und sie mit geschlossenen Augen lachend auf dem Handtuch neben mir lag, ihre sonnengebräunte Wange bestäubt mit Sand.
Zauberhafte Visionen,
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