Todeswunsch - Robotham, M: Todeswunsch - Bleed For Me
entlassen worden – und wartet unten in einem Vernehmungsraum.
»Wie soll ich es angehen?«, fragt Cray.
Ich betrachte den Kaffee in meiner Hand, die Tasse klappert auf der Untertasse. Ich brauche beide Hände, um sie festzuhalten. Im Laufe der Jahre habe ich in meiner Praxis mit vielen Kindern zu tun gehabt, die beschädigt und traumatisiert waren, genau wie Sienna. Auch wenn sie vielleicht ihren Vater getötet hat, muss sie wie ein Opfer behandelt werden, nicht wie ein Täter.
Cray sieht mich wartend an.
»Reden Sie behutsam mit ihr. Sie ist trotz allem ein ganz normaler, verängstigter Teenager. Vielleicht leugnet sie zunächst bestimmte Dinge. Sie hat sicher versucht, sie zu verdrängen. Durch die Befragung wird sie jedoch gezwungen sein, sich wieder an die Details zu erinnern. Sie wird das Geschehen noch einmal durchleben, und das wird ihr Trauma verstärken.«
»Und wie kann ich das vermeiden?«
»Halten Sie die Sitzungen kurz. Versichern Sie ihr immer wieder, dass sie ihre Sache gut macht. Legen Sie sich eine Fragestrategie zurecht, aber lassen sie Sienna die Geschichte auf ihre Weise erzählen. Sie können sie nicht wie eine Erwachsene mit Fragen bombardieren, sonst provozieren Sie vielleicht einen noch massiveren psychischen Zusammenbruch.
Achten Sie darauf, dass Sie sie nicht anfassen. Sie ist womöglich aufgewühlt, und Sie wollen sie vielleicht nur trösten, aber körperlicher Kontakt kann für ein missbrauchtes Kind sehr bedrohlich wirken.«
»Wir wissen nicht sicher , dass sie missbraucht wurde«, unterbricht Cray mich.
»Sie haben Zoes Aussage.«
»Die sie bei ihrer zweiten Befragung gemacht hat – nicht bei ihrer ersten.«
»Glauben Sie, dass sie lügt?«
»Er stelle lediglich Tatsachen fest.«
Cray will nicht in einem Sumpf aus Anschuldigungen enden. Sie ist Ermittlerin, keine Richterin.
Ich erkläre ihr, dass sie erst gegen Ende der Vernehmung einengende Fragen stellen soll, bei denen es um ganz bestimmte Details geht. Bis dahin soll sie Sienna bitten, ihre Sicht zu schildern. Wenn sie sich in Widersprüche verstrickt, soll sie darüber hinweggehen und später noch einmal darauf zurückkommen. Und ganz wichtig: Keine Frage zweimal stellen, weil Sienna das als Kritik deuten würde.
»Was ist mit den Fotos vom Tatort?«
»Zeigen Sie sie ihr nicht. Dafür ist es noch zu früh.«
Cray geht ihre Strategie noch einmal durch, bis sie zufrieden ist.
»Ich möchte, dass Sie dabei sind. Sie ist minderjährig. Sie sind ein berufener Erwachsener.«
»Was ist mit ihrer Mutter?«
»Sie hat Sie benannt.«
»Ich werde nicht zögern, die Befragung zu beenden, wenn Sie sie einschüchtern.«
Cray nickt und sucht ihre Notizen zusammen. »Auf geht’s.«
Sienna sitzt, die Hände zwischen die Schenkel gepresst, auf einem Stuhl und starrt auf die Kondenstropfen an der kalten Getränkedose auf dem Tisch. Sie trägt Jeans, eine enge Bluse und dunkle flache Ballerinas. Die Ringe unter ihren Augen scheinen sich dauerhaft eingenistet zu haben.
Als Ronnie Cray den Raum betritt, mustert Sienna die glänzend polierten klassischen Oxford Brogues. Ich sehe, dass sie sich fragt, was für eine Frau Männerschuhe und ihr Haar so stoppelkurz trägt.
Cray zieht sich einen Stuhl heran, nimmt direkt gegenüber Sienna Platz und knöpft ihre Jacke auf. Sienna beobachtet sie nervös.
»Ich werde ein Aufnahmegerät einschalten, Sienna. Du kannst alle meine Fragen beantworten, einige oder gar keine, das liegt ganz bei dir. Aber wenn dieser Fall vor Gericht kommt und du dort plötzlich mit einer absolut plausiblen Erklärung der tatsächlichen Ereignisse aufwartest, könnte das Gericht dem weniger Glauben schenken, weil es wissen möchte, warum du das nicht in deiner ersten Version der Ereignisse hier und jetzt gesagt hast.
Dies ist deine Chance zu erklären, was passiert ist. Die Befragung wird aufgezeichnet, alle Notizen, die ich mir mache, werden aufbewahrt und können bei Bedarf an das Gericht
übergeben werden, unabhängig davon, ob es zu deinen Gunsten oder Ungunsten geschieht. Hast du das verstanden?«
Sienna sieht mich an.
»Du musst sagen, woran du dich erinnerst«, erkläre ich ihr.
»Und wenn ich mich nicht erinnern kann?«
»Versuch es, so gut du kannst.«
»Okay«, sagt sie und greift zitternd nach der Getränkedose.
»Weißt du, warum du hier bist?«, fragt Cray.
Sienna nickt.
»Du musst etwas sagen, sonst können wir deine Antworten nicht aufnehmen.«
»Daddy ist tot.«
»Ja.«
»Kannst
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