Todeszauber
der Reichweilers parken, sieht es ganz so aus, als hätte uns von Sandleben tatsächlich in die Irre geführt. Weit und breit ist kein schwarzer Cayenne zu sehen.
»Vielleicht haben sie in einer Seitenstraße geparkt«, sage ich hoffnungsvoll, als wir auf das idyllische Reetdachhaus mit den kleinen weißen Sprossenfenstern zugehen.
Wilsberg zuckt mit den Schultern. »Vielleicht sind sie aber auch nie hier gewesen.«
Wir klingeln.
Tatsächlich öffnet Frau Reichweiler uns die Tür. Was ich ausgesprochen beruhigend finde. Immerhin stimmt die Adresse, die von Sandleben uns genannt hat.
Erstaunt reißt die Reichweiler die Augen auf. »Sind wir verabredet? Habe ich was vergessen?«
»Nein, nein«, sage ich sofort. »Herr Wilsberg und ich sind dabei, den Fall abzuschließen, und wir wollten Ihnen noch ein paar Fragen stellen. Es dauert nicht lange.«
Kurz zögert sie, dann tritt sie zur Seite und lässt uns herein.
»Schön haben Sie es hier«, sage ich und sehe mich in dem Wohnzimmer um. Einem lang gestreckten Raum mit niedriger Decke und einer altmodisch kitschigen Möblierung, die nicht ganz meinem Geschmack entspricht, aber gut zu dem Haus passt. Eine schmale Tür und zwei kleine Fenster gehen auf einen Garten hinaus, dessen Rosenbeete, Büsche und Bäume von im Boden versenkten Strahlern angeleuchtet werden. Soweit ich das in der Dunkelheit sehen kann, endet das Grundstück direkt an der Schlei. All das registriere ich in Sekundenschnelle, genauso wie die Tatsache, dass auf den alten Pitchpinedielen vor der Tür frische Erdkrümel liegen. Was ich nirgends sehe und auch nicht höre, sind Vögel.
»Woher wussten Sie, dass ich hier bin?«, fragt Frau Reichweiler verunsichert.
»Der Garten ist ja traumhaft«, erwidert Wilsberg und geht zum Fenster.
Ich pflichte ihm bei. »Herrlich. Und dass er bis an die Schlei reicht – einfach toll.«
Frau Reichweiler lächelt geschmeichelt. »Ja, das stimmt schon. Nur leider riecht es bei Niedrigwasser im Sommer manchmal nicht so gut.«
»Sie meinen bei Ebbe?«, fragt Wilsberg erstaunt.
Frau Reichweiler wirkt amüsiert. »Mit Niedrigwasser meine ich die Trockenperioden, unter denen wir immer wieder zu leiden haben. Aber Ebbe und Flut spüren wir auch ein bisschen, mit einem Tidenhub von immerhin bis zu zwanzig Zentimetern. Schließlich ist die Schlei kein gewöhnlicher Fluss, sondern ein Meeresarm der Ostsee und Schleswig-Holsteins längste Förde …«
Während sie Wilsberg eine Einführung in die geografische Ausdehnung und Topografie des Schlei-Trave-Flussgebiets gibt, lasse ich meinen Blick durch den Garten schweifen. In der Hoffnung, irgendetwas zu entdecken, das Aufschluss über den Verbleib von Cornfeld und Anna geben könnte. War da nicht ein verdächtiger Schatten? Und was befindet sich dort auf der Wiese? Ist das ein Kleidungsstück oder sind das nur Blätter, die der Wind von den Obstbäumen auf den Rasen geweht hat? Immerhin fällt mir auf, dass draußen vor der Tür die Fußmatte verschoben ist und dass eine rostige Gartenforke schräg daneben am Boden liegt.
Frau Reichweiler, die ihren Exkurs beendet hat, deutet auf ein Biedermeiersofa, das unter einer Flut bestickter Kissen zu verschwinden droht. »Wollen Sie sich nicht setzen? Darf ich Ihnen einen Tee anbieten?«
»Nein danke.«
Es fällt schwer, lockeren Smalltalk zu machen, wenn die Nerven blank liegen und sich der Magen in einen harten Klumpen verwandelt hat.
»Frau Reichweiler …«, beginnt Wilsberg.
»Wussten Sie, dass Isabel schwanger war?«, platze ich dazwischen.
Ihre Miene gerinnt zu einer ausdruckslosen Maske. »Nein.«
»Hat Ihr Mann je davon gesprochen, sich wegen Isabel von Ihnen scheiden zu lassen?«
Sie schüttelt heftig den Kopf. »Nie im Leben. Wegen eines solchen … Verhältnisses hätte er mich nicht verlassen.«
»Das war nicht nur ein Verhältnis«, sagt Wilsberg. »Das war eine Liebesbeziehung.«
»Haben Sie Vögel?«, frage ich unvermittelt.
»Vögel?«, echot Frau Reichweiler.
»Haben Sie nicht?«, fragt Wilsberg nach.
»NEIN. Ich habe keine Vögel. Mein Mann wollte mich nicht verlassen. Isabel war nicht von ihm schwanger. Mir reicht es jetzt. Ich bin ein freundlicher und höflicher Mensch. Immer darauf bedacht, andere fair zu behandeln und zu helfen, wo ich kann. Aber alles hat seine Grenzen. Sie gehen! Und zwar sofort!«
Ostenativ hält sie die Wohnzimmertür auf. »Auf Wiedersehen. Beziehungsweise adieu. Weil wiedersehen möchte ich Sie ganz bestimmt
Weitere Kostenlose Bücher