Todeszeichen: Ein Fall für Leitner und Grohmann (German Edition)
nackt. Eine kalte Brise, vermutlich Zugluft, strich über ihren entblößten Körper.
Charlotte wusste, dass sie in Schwierigkeiten war, noch bevor sie die Augen öffnete. Sie erinnerte sich an das, was sie heute herausgefunden hatte, und daran, dass sie von dem Taxifahrer angegriffen worden war. Sie befand sich in seiner Gewalt.
Mit eiskalter Klarheit wurde ihr bewusst, dass der Mann, der sie überwältigt und verschleppt hatte, niemand anderes sein konnte als der »Künstler«. Der Serienmörder, der sechs Frauen umgebracht und ihre Rücken als Leinwand missbraucht hatte.
Der Mann, der ihre Mutter vor fünfundzwanzig Jahren vergewaltigt hatte. Der ihr bis nach Lemanshain gefolgt war, um sein Werk zu vollenden und sie doch noch umzubringen.
Ihr Vater.
Vor ein paar Stunden hatten sie diese Gedanken noch in Panik versetzt – wie lange das nun genau her war, wusste sie nicht, da sie nicht die geringste Ahnung hatte, wie lange sie bewusstlos gewesen war – , und Verzweiflung hatte ihr Denken und Handeln beherrscht.
Jetzt, in dieser Situation, waren die Ergebnisse ihrer Recherchen nur noch Tatsachen, die ihr Verstand klar und gefühllos erfasste.
Charlotte spürte instinktiv, dass sie nicht alleine war. Sie konnte keine Geräusche ausmachen, hörte auch sein Atmen nicht, doch er war da. Er war mit ihr hier in diesem Raum und beobachtete sie. Er wartete darauf, dass sie aufwachte und er sich an ihrer Hilflosigkeit ergötzen konnte. Er wartete darauf, ihr Schmerzen zufügen zu können.
Sie wusste, dass die Qualen beginnen würden, sobald sie die Augen aufschlug.
Sie wollte ihn ansehen, wollte in seine Augen blicken und herausfinden, wer er war. Doch sie würde ihr Schicksal besiegeln, wenn sie die Lider hob.
Letztlich würde es jedoch keinen Unterschied machen, das wusste sie. Sie würde das Unvermeidliche nur hinauszögern, wenn sie sich noch länger bewusstlos stellte.
Irgendwann würde er die Geduld verlieren und einen Weg finden, sie zu wecken. Er kannte sich aus. Er wusste genau, wann die Betäubungswirkung nachließ, und vermutlich wusste er bereits, dass sie wach war und sich nur verstellte. Irgendwann wären seine Faszination und seine Geduld aufgebraucht, und er würde aktiv werden.
Charlotte wünschte, sie hätte sich niemals mit den forensischen und psychologischen Hintergründen der Taten des »Künstlers« beschäftigt. Es war alles andere als beruhigend, zu wissen, was in den nächsten Stunden auf sie zukommen würde.
Sie schlug die Augen auf.
Es dauerte einige Sekunden, bis sie sich an das dämmrige Licht gewöhnte und ihre Umgebung an Schärfe gewann. Was sie von dem Raum sehen konnte, war spärlich eingerichtet, wirkte heruntergekommen und dreckig. Löchrige Gardinen hingen vor den Fenstern, von draußen drang jedoch kaum Helligkeit herein.
Charlotte hatte keine Ahnung, wo sie sich befanden. In einem größeren Schuppen oder einem verlassenen Industriegebäude vielleicht.
Erst jetzt richtete sie den Blick auf die Person, die am Fußende der Pritsche stand und sie bewegungslos anstarrte. Im Halbdunkel erkannte sie einen hageren, jedoch kräftig wirkenden Mann um die Fünfundvierzig. Seine Erscheinung war vollkommen durchschnittlich, und es gab nichts an ihm, das irgendeinen Wiedererkennungswert gehabt hätte.
Bis auf seine Augen. Ihre Augen.
Es war, als würde sie sich selbst im Spiegel ansehen.
Wenn sich bisher noch irgendetwas in ihr an die Hoffnung geklammert hatte, dass alles nur ein Irrtum war, dass der Mann, der ihre Mutter vergewaltigt und ein Vierteljahrhundert später getötet hatte, nicht ihr Vater war – , so wurde diese Hoffnung in diesem Moment zerstört. Sie wusste, dass ihr Erzeuger ihr gegenüberstand.
Und er wusste es auch. Es war etwas in seinem Blick, das ihr diese Gewissheit verlieh.
In seinen Augen lag ein Ausdruck, der Charlotte tief in ihrer Seele berührte und zwei sehr unterschiedliche Gefühle hervorrief: Angst und Hass.
Sie sah in die Augen eines Monsters. Eines Monsters, das es auf sie abgesehen hatte.
Charlotte erkannte ihn wieder. Jetzt, viel zu spät, fiel ihr auf, dass er der Taxichauffeur war, der sie heute Morgen in »Garten Eden« abgeholt und nach Hanau gefahren hatte. Nur dass die langen Haare, die Mütze und die Brille verschwunden waren.
Und noch eine Erinnerung drängte plötzlich in ihr Gedächtnis: Das Taxi, das nachts vor der Universität gestanden hatte und auf sie zugekommen war, gerade als Joshua auftauchte. Sie hatte keinen Zweifel
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