Todeszeichen: Ein Fall für Leitner und Grohmann (German Edition)
tragbar ist. Aber letztlich wird dabei nicht mehr herauskommen als eine Suspendierung für ein oder zwei Monate. Wir haben ihnen allen einen großen Gefallen getan, das dürfen Sie nicht vergessen. Es gibt zwar einige Leute, die Melchior Lauer lieber vor Gericht als tot gesehen hätten, Staatsanwalt Grohmann beispielsweise. Aber eigentlich sind alle, vor allem der Magistrat, froh darüber, dass man sich ein aufsehenerregendes Gerichtsverfahren sparen kann. So lässt sich die gesamte Angelegenheit still und leise mitsamt dem verrückten Serienkiller begraben.«
Charlotte nickte nur und lehnte sich in die Kissen zurück. Sie bereute nicht, ihn erschossen zu haben, auch wenn sie in jenem Moment vermutlich als nicht zurechnungsfähig gegolten hätte. Er hatte die gerechte Strafe für seine Verbrechen bekommen.
Nicht nur den Stadtoberen blieb ein nervenaufreibender Prozess erspart, sondern auch ihr selbst. Der Gedanke, ihre Verbindung zu Melchior Lauer könnte ans Licht der Öffentlichkeit gezerrt werden, hatte bei ihr noch in der Notaufnahme eine Panikattacke ausgelöst, als sie eigentlich schon längst gewusst hatte, dass es dazu nicht mehr kommen würde.
Tote wurden nicht vor Gericht gestellt.
Jennifer fiel es schwer, die nächsten Worte auszusprechen. »Wir haben die Proben wie versprochen im Eilverfahren testen lassen.« Sie stockte.
Sie musste aber auch gar nichts weiter sagen, denn Charlotte sprach die Tatsache vollkommen ruhig und scheinbar emotionslos aus. »Melchior Lauer war mein Erzeuger.«
»Ja.«
Charlotte senkte den Blick und starrte einen Moment auf die blütenweiße Krankenhausbettdecke. Dann nickte sie langsam. »Ich habe es gewusst. Es war zwar nur eine Vermutung, aber irgendwie war mir sofort klar, dass es stimmt. Meine Mutter hätte mich sonst nicht derart … « Sie verstummte und biss sich auf die Unterlippe. »Trotzdem brauchte ich diesen letzten und endgültigen Beweis.«
Jennifer antwortete nichts darauf. Sie öffnete ihren Rucksack und zog einen braunen Umschlag ohne Beschriftung heraus. Wortlos reichte sie ihn Charlotte.
Die junge Frau sah sie fragend an, ohne den Umschlag entgegenzunehmen. »Was ist das?«
»Möglicherweise ein Teil jener Antworten, nach denen Sie noch immer suchen«, erwiderte Jennifer. »Melchior Lauer hat seit seiner Kindheit Tagebuch geführt und seine Gedanken sowie all seine Taten festgehalten. Auf der DVD befinden sich Scans und Kopien sämtlicher Aufzeichnungen von ihm.«
Charlotte starrte den Umschlag einige Sekunden lang an, bevor sie endlich danach griff. Sie öffnete ihn, nahm die DVD heraus und drehte die Plastikhülle mehrfach unsicher in den Händen. Dann blickte sie wieder zu Jennifer auf. »Sie dürften mir diese Daten überhaupt nicht geben. Haben Sie denn gar keine Angst, dass ich das publik mache?«
Die Kommissarin schüttelte den Kopf. »Zum einen weiß ich, dass Sie das niemals tun würden. Zum anderen teilen wir bereits ein anderes, viel größeres Geheimnis.«
Charlotte nickte bedächtig. Dann schob sie die Hülle in den Umschlag zurück und verstaute ihn in dem Schränkchen neben ihrem Krankenbett.
Monate sollten vergehen, bevor sie die Aufzeichnungen lesen und in die Welt ihres Vaters eintauchen, bevor sie all sein erlittenes und all das von ihm verursachte Leid kennenlernen würde.
Sie würde erfahren, dass Melchior Lauer sowohl von seiner Mutter als auch von seinem Vater als Kind aufs Brutalste missbraucht worden war. Sie würde die detaillierten Schilderungen dessen lesen, was seine Eltern ihm angetan hatten. Dass er gelernt hatte, den Duft von schwerem, blumigem Parfüm zu hassen, weil er ihn riechen musste, wenn sein Gesicht zwischen die Brüste seiner Mutter oder zwischen ihre Schenkel gedrückt wurde.
Sein Vater hatte sich durch den inzestuösen Missbrauch zu seinen Gemälden inspirieren lassen. Die Bilder waren in dem Raum entstanden, in dem Melchior Lauer nichts als Schmerz und Leid erfahren hatte: dem Atelier seines Vaters. Manchmal hatte er vor seinem Vater knien und ihn oral befriedigen müssen, während der seine Sehnsucht nach dem Fleisch junger Knaben – insbesondere nach dem seines Sohnes – auf Leinwand gebannt hatte.
Charlotte würde lesen, dass seine eigene Mutter ihn mit Messern verletzt und ihm immer wieder gedroht hatte, ihm bleibende Wunden einzuritzen. Sie würde, vermittelt durch seine eigenen Worte, miterleben, wie aus einem geschändeten Jungen ein Teenager wurde, dessen Zorn sich gegen seine Eltern
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