Todeszeichen: Ein Fall für Leitner und Grohmann (German Edition)

die Küchenzeile. Das dreckige Geschirr in der Spüle, das Poster am Kühlschrank. Die Ablagen und Regale, auf denen sich überwiegend Fachliteratur stapelte.
    Hatte sich irgendetwas verändert?
    Der Umzugskarton mit den Habseligkeiten ihrer Mutter, den ihr Jennifer Leitner überraschend am Dienstagabend vorbeigebracht hatte, weil ihr wohl klar geworden war, dass Charlotte ihn niemals abholen würde, stand auf der hinteren Sitzbank und wartete darauf, zurück ins Schließfach gebracht zu werden. Sie hatte das Fotoalbum erst am Morgen herausgenommen.
    Die Kiste war verschlossen, doch irgendetwas kam ihr anders vor. War es die Art, wie sich die Papplaschen überlappten, die den Karton geschlossen hielten?
    Charlotte schüttelte den Kopf.
    Ihre Erinnerung trog sie. Es konnte nicht anders sein.
    Verdammte Gefühle.
    Verdammter Joshua.
    Mit einem Seufzen nahm sie das Fotoalbum vom Tisch und öffnete den Umzugskarton. Als sie das Album auf den chaotischen Stapel aus Unterlagen gleiten lassen wollte, rutschte ein einzelnes Foto heraus. Es segelte zu Boden und landete zielsicher unter der Sitzbank.
    »Scheiße.«
    Im ersten Moment war Charlotte versucht, es einfach liegen zu lassen, rang sich dann aber doch dazu durch, unter den Tisch zu kriechen. Zwischen ein paar Staubflusen und uralten, vertrockneten Brotkrümeln fand sie den Flüchtling. Als sie sich aufrichtete, stieß sie sich den Kopf an der Tischplatte.
    Im Tageslicht sah sie jetzt, warum sich das Papier so merkwürdig dünn angefühlt hatte. Es war gar kein Foto, sondern ein vergilbter Zeitungsartikel.
    Mit gerunzelter Stirn überflog sie den kurzen Text, der mit »Mädchen im Wald aufgefunden« überschrieben war.
    Am Wochenende wurde ein verstörtes Mädchen von Wanderern im Wald aufgefunden. Untersuchungen im Krankenhaus ergaben, dass die Jugendliche vergewaltigt worden ist. Zu den genauen Umständen dieser schrecklichen Tat wollte sich die Polizei am Montagmorgen noch nicht äußern. Internen Informationen zufolge handelt es sich bei dem Opfer aber um die Herzheimerin Lena F. Unsere Gedanken sind bei Dir und Deiner Familie, Liebes. VSH.
    Charlotte war verwirrt.
    Ihr war dieser Ausschnitt im Fotoalbum ihrer Mutter zuvor nicht aufgefallen. Aber sie hatte es auch nie ganz durchgeblättert und auch nicht allen Seiten die größte Aufmerksamkeit geschenkt. Tatsächlich hatte sie am Morgen zum ersten Mal einen mehr als flüchtigen Blick hineingeworfen und war nicht besonders weit gekommen.
    Was aber hatte dieser Artikel im Album ihrer Mutter zu suchen?
    Konsterniert drehte Charlotte den Zeitungsausschnitt um. Auf der Rückseite befand sich ein zerschnittener Text und ein Teil von einem Foto. Und am unteren rechten Rand, schon fast unleserlich, Name und Ausgabe der Zeitung.
    Herzheimer Anzeiger . 18/86
    Wofür stand 18/86? Für Ausgabe 18 aus dem Jahr 1986? Möglich.
    Doch welche Verbindung gab es zwischen ihrer Mutter und diesem Artikel? Man hob Zeitungsausschnitte nicht in einem Album auf, wenn sie nicht von besonderer Bedeutung waren.
    Welche Verbindung hatte ihre Mutter nach Herzheim? Charlotte hatte noch nie von diesem Ort gehört. Und wer war Lena F.? Kannte ihre Mutter das Mädchen aus der Zeitung? Eine Freundin von ihr, vielleicht aus Kindertagen?
    Charlotte las den Artikel noch einmal durch.
    Irgendetwas in ihrem Innern zog sich zusammen. Sie kannte das Gefühl.
    In den Tiefen ihres Gehirns war ein verborgener Teil ihres Verstandes der Meinung, dass dieser Artikel eine signifikante Bedeutung hatte, die sich ihr nur noch nicht erschloss. Eine Bedeutung, die sie möglicherweise ergründen sollte.
    Sie zog das Fotoalbum aus dem Umzugskarton und blätterte es Seite für Seite durch. Gab es noch mehr Zeitungsausschnitte? Ein Foto, das ihre Mutter gemeinsam mit einer Freundin zeigte? Einen Hinweis auf irgendeine Verbindung nach Herzheim? Sie fand nichts von all dem.
    Nicht einmal einen Platz, an dem der herausgefallene Artikel zuvor vielleicht geklebt haben könnte.
    Charlotte holte ihr Notebook hervor und gab den Ort Herzheim bei Google ein. Es gab nur wenige Treffer.
    Herzheim war eine kleine Gemeinde im nördlichen Schwarzwald, etwas südlich von Karlsruhe gelegen.
    Die Homepage des Ortes gab nicht allzu viele Informationen preis und war nicht eben ein Musterbeispiel des Webdesigns. Trotzdem fand Charlotte nach einigen Klicks durch die umständliche Menüführung heraus, dass der Herzheimer Anzeiger von 1955 bis 1991 die Lokalzeitung der Gemeinde gewesen