Todeszeichen: Ein Fall für Leitner und Grohmann (German Edition)
war.
Man konnte dem kurzen Hinweis, der in einer liebevollen, aber alles andere als übersichtlichen Liste geschichtlicher Fakten auftauchte, entnehmen, dass der Herzheimer Anzeiger mehr ein Informationsblättchen als eine richtige Zeitung gewesen war. Herausgeber und Redaktion hatten auf ehrenamtlicher Basis gearbeitet.
Für Charlotte war der geschichtliche Hintergrund uninteressant. Was allerdings sofort ihr Interesse weckte, war die abschließende Information, dass alle Ausgaben des Anzeigers im Gemeindearchiv des örtlichen Rathauses eingesehen werden konnten.
Der Artikel über das Mädchen schrie geradezu nach einer Fortsetzung mit weiteren Informationen. In einer kleinen Gemeinde wie Herzheim würde es nicht bei einer einzigen Erwähnung geblieben sein. Die tragische Geschichte eignete sich mindestens als Story des Monats.
Der Entschluss, dem Artikel nachzugehen und herauszufinden, warum ihre Mutter ihn in ihrem Album aufgehoben hatte, kam Charlotte selbst verrückt vor. Möglicherweise nutzte sie das Auftauchen dieses vermutlich vollkommen unbedeutenden Zeitungsausschnitts nur als Ausrede für eine Flucht, aber es war eine willkommene Ablenkung. Gerade nach dem Desaster mit Joshua.
Charlotte googelte noch den Namen »Lena F.«, auch in Verbindung mit Herzheim, was jedoch keinerlei sinnvolle Treffer ergab.
Dann suchte sie auf der Homepage der Gemeinde nach der Telefonnummer des Archivs, fand aber nur eine allgemeine Rufnummer für das Rathaus.
Ein Blick auf die Uhr zeigte ihr, dass sie Glück oder Pech haben konnte. Auf der Internetseite waren nirgendwo Öffnungszeiten zu finden.
Sie wählte die Nummer, und nach dem dritten Klingeln nahm eine Frau ihren Anruf entgegen.
Charlotte erkundigte sich, ob es möglich sei, Rechercheanfragen an das Gemeindearchiv zu stellen. War es erwartungsgemäß nicht. Das Archiv war jedem Interessierten während der Öffnungszeiten zugänglich.
Als sie sich nach den Öffnungszeiten erkundigte, entstand für ein paar Sekunden Schweigen in der Leitung. Im Hintergrund war Papierrascheln zu hören. Dann: »Da müssen Sie Elisabeth Goldstein fragen. Sie ist für das Archiv verantwortlich.« Die Frau nannte ihr eine Telefonnummer, die keine Durchwahl innerhalb des Rathauses zu sein schien, jedenfalls gehörte sie nicht zur selben Telefonanlage.
Charlotte bedankte sich artig und wählte die Nummer von Elisabeth Goldstein.
»Goldstein«, meldete sich eine kratzige Stimme unwirsch nach dem vierten Klingeln.
»Spreche ich mit Elisabeth Goldstein?«
»Ja, wer will das wissen?«
Die ruppige Art der Frau überrumpelte Charlotte etwas. »Mein Name ist Seydel. Ich … «
»Wollen Sie mir etwas verkaufen, junge Frau? Dann legen Sie besser gleich wieder auf!«
»Nein, nein … Keineswegs. Ich rufe wegen des Gemeindearchivs an.«
Zwei Sekunden lang herrschte Stille in der Leitung, dann war ein Husten zu hören. »Entschuldigung.« Die Stimme klang auf einmal viel sanfter, schon fast zuvorkommend. »Was möchten Sie denn wissen?«
»Ich rufe wegen der Öffnungszeiten an. Eine Dame aus dem Rathaus hat mir Ihre Nummer gegeben.«
»Sie stammen wohl nicht aus Herzheim?«
»Nein.«
»Dachte ich mir. Was wollen Sie denn in unserem Archiv?« Elisabeth Goldstein klang jetzt mehr als nur neugierig.
Irgendwie hatte Charlotte ihre barsche Art besser gefallen. Sie war alles andere als erpicht darauf, der Dame im Detail zu erklären, warum sie einen Besuch in Herzheim in Erwägung zog. »Es geht um Recherchen in einer Privatangelegenheit. Ich interessiere mich unter anderem für die archivierten Ausgaben des Herzheimer Anzeigers .«
»Aha.« Elisabeth Goldstein schien zu zögern. Charlotte glaubte schon, sie würde ihr eine Abfuhr erteilen, als sie schließlich fragte: »Und wann wollen Sie vorbeikommen?«
Auch wenn sie ihren Lieblingstermin eigentlich bereits als Utopie abgehakt hatte, antwortete sie: »Am liebsten wäre mir natürlich morgen, aber … «
»Morgen klingt wunderbar.«
Charlotte blieb vor Überraschung einen Moment lang der Mund offen stehen. Sie hatte nicht erwartet, an einem Samstag empfangen zu werden. »Wirklich?«
»Ja. Aber nur, wenn Sie Tee mitbringen und eine Schachtel Pralinen spendieren.«
Charlotte konnte ihr Glück kaum fassen. »Einverstanden.«
Sie verabredeten sich für elf Uhr am Samstagmorgen vor dem Herzheimer Rathaus.
Charlotte hatte eben aufgelegt, als ihr Handy klingelte.
Es war Joshua.
Sie zögerte nur kurz, dann drückte sie ihn weg und
Weitere Kostenlose Bücher