Todeszeit
Wahrscheinlich bewunderte er seine breite Brust und seine schlanke Taille.
Wie leicht es Mitch fiel, sich vorzustellen, dass sein Vater von den beiden Spiegeln nicht unendlich reflektiert wurde
wie andere Leute, sondern dass nur ein einziges Bild von ihm entstand. Ein Bild, das so wenig Substanz besaß, dass es für alle Betrachter außer ihm selbst so durchscheinend aussah wie ein Gespenst.
18
Um zehn vor sechs, gerade einmal eine Viertelstunde, nachdem er am Haus von Daniel und Kathy eingetroffen war, saß Mitch wieder im Wagen. Er bog um die nächste Ecke und fuhr rasch über die nächsten zwei Kreuzungen.
Es war noch etwa zwei Stunden hell. Vorläufig konnte er problemlos sehen, ob er verfolgt wurde.
Er lenkte den Wagen auf den leeren Parkplatz einer Kirche.
Vor ihm erhob sich eine abweisende Backsteinfassade mit gebrochenen Augen aus farbigem Glas, die düster waren, weil innen kein Licht brannte. Darüber ragte der Kirchturm in den Himmel und warf einen scharfen Schatten auf den Asphalt.
Die Befürchtungen seines Vaters waren unbegründet gewesen. Mitch hatte nicht vorgehabt, um Geld zu bitten.
Finanziell ging es seinen Eltern ausgesprochen gut. Zweifellos hätten sie hunderttausend Dollar zum Lösegeld beitragen können, ohne sich in irgendeiner Weise einschränken zu müssen. Aber selbst wenn sie ihm doppelt so viel gegeben hätten, hätte er angesichts seiner eigenen spärlichen Mittel immer noch kaum mehr als zehn Prozent der geforderten Summe in der Hand gehabt.
Abgesehen davon hätte er schon deshalb nicht gefragt, weil er wusste, dass seine Eltern ihm nicht entgegengekommen wären. Als offiziellen Grund hätten sie ihre Erziehungstheorien angeführt.
Außerdem hatte er inzwischen den Verdacht, dass es den Kidnappern nicht nur um Geld ging. Er hatte zwar keine Ahnung, was sie sonst noch im Sinn hatten, aber es ergab offensichtlich keinerlei Sinn, die Frau eines bescheidenen Gärtners zu entführen, wenn man nicht irgendetwas wollte, was nur dieser Gärtner beschaffen konnte.
Bisher hatte er angenommen, die Burschen wollten ihn gewissermaßen als ferngesteuerten Roboter benutzen, um einen Raubüberfall zu begehen. Das war zwar durchaus möglich, aber es überzeugte ihn nicht mehr.
Unter dem Fahrersitz holte er den kurzläufigen Revolver und das Knöchelholster hervor.
Vorsichtig untersuchte er die Waffe. Soweit er es beurteilen konnte, hatte sie keine Sicherung.
Als er die Trommel ausschwenkte, stellte er fest, dass sie fünf Patronen enthielt. Das überraschte ihn, da er sechs erwartet hatte.
Alles, was er über Waffen wusste, hatte er aus Büchern und Filmen erfahren.
So gern Daniel auch darüber redete, wie wichtig es sei, Kinder zur Selbstständigkeit zu erziehen, für die Konfrontation mit Typen wie John Knox hatte er Mitch nicht vorbereitet.
Ein Beutetier muss flüchten lernen, und ein Raubtier muss jagen lernen.
Seine Eltern hatten ihn dazu erzogen, als Beute zu fungieren. Nun, da Holly sich in den Händen von potenziellen Mördern befand, gab es allerdings keinen Ort, an den er sich flüchten konnte. Er wäre lieber gestorben, als sich zu verkriechen und sie der Gnade und Ungnade dieser Leute auszuliefern.
Mit einem Klettverschluss konnte das Holster so hoch am Unterschenkel angebracht werden, dass es auch dann
nicht zu sehen war, wenn das Hosenbein beim Setzen ein Stück hochrutschte. Da Mitch sowieso nicht auf Röhrenjeans stand, hatte er keine Probleme, den kompakten Revolver unterzubringen.
Er schlüpfte in den Sakko. Vor dem Aussteigen wollte er sich die Pistole hinten unter den Gürtel stecken, wo sie von der Jacke verdeckt wurde.
Auch die Pistole schaute er sich erst einmal genauer an. Wieder fand er keinen Sicherungshebel.
Nachdem er eine Weile an der Waffe herumgefummelt hatte, gelang es ihm, das Magazin abzunehmen. Es enthielt acht Patronen. Als er den Schlitten zurückzog, sah er eine neunte im Lager glänzen.
Als er das Magazin wieder eingesetzt und sich vergewissert hatte, dass es sauber eingerastet war, legte er die Pistole zurück auf den Beifahrersitz.
Sein Handy läutete. Die Uhr am Armaturenbrett zeigte eine Minute vor sechs an.
»Na, wie war’s bei deinen Eltern?«, fragte der Kidnapper.
Weder auf der Fahrt zu seinem Elternhaus noch nach seinem Besuch dort hatte Mitch irgendeinen Verfolger gesehen. Dennoch wussten die Typen, wo er gewesen war.
»Ich habe ihnen nichts verraten«, sagte er sofort.
»Was wolltest du dann dort – ’ne Tasse Kakao und
Weitere Kostenlose Bücher