Todfeinde
war. Als er ihr berichtete, welche Ängste er beim Heranpirschen an den Grizzly durchlebt hatte, sagte sie: »Sheridan ist unausstehlich gewesen. Ich kann mit dem Mädchen nicht mal mehr reden.«
Joe hielt inne. »Marybeth, hörst du mir überhaupt zu?«
»Ich mache mir seit drei Tagen Sorgen um dich. Kannst du dir vorstellen, wie das ist?«
»Nein«, erwiderte er und sah die Landstraße entlang. »Wahrscheinlich nicht.«
Er wusste nicht, ob er zornig war, Schuldgefühle hatte oder beides zugleich empfand.
»Ich ruf dich morgen an«, sagte er und legte auf.
Trey musterte ihn, als er wieder auf seinen Hocker am Tresen stieg. »Alles in Ordnung?«
»Die Zentrale hat Marybeth nichts gesagt. Sie hatte keine Ahnung, wo ich war.«
»Oha.« Trey schüttelte den Kopf. »Ob meine Frau Bescheid wusste?«
»Sie sollten sie besser anrufen.«
»Um so unglücklich auszusehen wie Sie? Da trink ich lieber noch ein Bier.«
Als Joe am nächsten Morgen den Shoshone River außerhalb von Cody überquerte, schämte er sich. Trotz des vielen Biers hatte er in seinem Motelzimmer nicht gut geschlafen. Nun versuchte er, die Lage im Hinblick auf die anstehende Aufgabe neu einzuschätzen. Er hinkte seinem Zeitplan vier Tage hinterher und hatte noch keine Möglichkeit gehabt, sich mit Marybeth ungestört auszusprechen. Er war in Ehrfurcht erstarrt, als er hätte schießen sollen. Hätte der Bär Trey angegriffen – so redete er sich ein – , hätte er einwandfrei reagiert und gefeuert. Keine Frage. Er hatte schon früher die Waffe gezogen und im Zorn geschossen. Einmal hatte er versehentlich aus großer Entfernung einen Mann angeschossen. Doch noch nie hatte er einem Bären Auge in Auge gegenübergestanden.
Später merkte er, wie der Schleier sich hob. Die Schuldgefühle, Marybeth und die Mädchen verlassen zu haben, waren zwar nicht verschwunden, doch rückte der Gedanke an die anstehenden Herausforderungen nun mehr und mehr in den Vordergrund. Er vermisste seine Familie bereits, doch das Telefonat mit Marybeth hatte einen bitteren Nachgeschmack hinterlassen. Es war kein gutes Gespräch gewesen.
Natürlich hatte sie das Recht, besorgt und zornig zu sein. Doch er hatte mit ihr reden und ihr erzählen wollen, was er getan hatte und wie hart es gewesen war, dem Bären von Angesicht zu Angesicht gegenüberzutreten. Stattdessen war es allein um sie gegangen. Sie hatte ihn sich schuldig fühlen lassen. So wie immer. Er wusste, dass die letzten fünf Jahre schwer für sie gewesen waren. Sie hatte viel durchmachen müssen. Aber würde es je eine Zeit geben, in der er sich nicht wie auf rohen Eiern bewegen müsste und sie ihm nicht die Schuld dafür zu geben schien, was aus ihrer beider Leben geworden war?
Er war ungerecht. Trotz allem liebte er sie. Ohne sie würde er ins Nirgendwo trudeln. Er brauchte sie als Anker.
Doch er freute sich auf die Veränderung. Auf sein neues Revier.
War der Druck in Saddlestring und zu Hause wirklich so groß geworden, dass die Aussicht, allein in ein Jagdlager voller Bewaffneter zu reiten, ihm nun wie ein Abenteuerurlaub vorkam? Er wollte sich diesen Gedanken aus dem Kopf schlagen und sich einreden, es sei gut, eine echte Aufgabe zu haben und sich einer großen Herausforderung zu stellen. Es war gut, dass Trey ihm vertraute und er aus fünfundfünfzig Kollegen für diesen spannendsten und prestigeträchtigsten Bezirk ausgewählt worden war.
Auf dem Weg durch den Canyon beobachtete Joe, wie das Empfangssignal seines Handys immer schwächer wurde, bis schließlich »Kein Netz« auf dem Display erschien.
Auf geht’s , dachte er. Auf geht’s .
7. KAPITEL
Obwohl er hätte vorbereitet sein müssen und sie Dutzende Male auf Fotos, Gemälden und Briefmarken sowie in Filmen und in natura gesehen hatte, spürte Joe sein Herz hüpfen, als der Wald südlich des Yellowstone Parks sich kurz öffnete und die Tetons sich im Licht des späten Nachmittags gewaltig vor ihm erhoben. Vor allem Mount Moran mit seinem wie ein Komma geformten Gletscher glänzte gleißend vor dem wolkenlosen Himmel. An die Stelle der dunklen, abgerundeten Schultern der Bighorns, seiner Berge, waren die silberweiß glitzernden Tetons getreten, die wie rasiermesserscharfe Säbel zum Himmel strebten, als wollten sie ihn aufschlitzen. Joe hatte das Gefühl, seinen gemütlichen Horizont gegen ein neues, blendendes Hightech-Modell zu tauschen.
Ob er diese Berge jemals würde ansehen können, ohne dabei ein Flattern im Magen zu verspüren?
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