Todfeinde
ein Metronom von einer Seite zur anderen. »Über zwanzig. Bei uns arbeiten Biologen, Habitat-Spezialisten, Fischexperten und Werbeleute. Außerdem gibt es hier eine Bibliothek und einen Konferenzraum. Und eine Koppel hinterm Haus, wo Wills vier Pferde stehen.«
»Zwanzig Büros«, wiederholte Joe. »In meinem Bezirk arbeite ich von daheim aus. In einem Zimmer, das so groß ist wie dieser Schalter.«
»Interessant«, sagte sie mit einem gleichgültigen Unterton. »Hoffentlich verlaufen Sie sich hier nicht.«
»Das hoffe ich auch.«
Sie schwiegen einige Sekunden lang und sahen sich an.
»Übernehmen Sie nun sein Büro oder nicht?«, fragte Mary schließlich.
»Gibt es denn kein leeres Zimmer?«
»Einige. Aber die sind lausig möbliert, wenn überhaupt. Die Leute holen sich aus den unbenutzten Büros, was sie brauchen können. Sie dürften einen Schreibtisch benötigen, oder? Und einen funktionierenden Computer?« Sie stellte ihn noch immer auf die Probe. »Wills Büro ist das geeignetste – nehmen Sie es doch einfach.«
Er setzte schon zum Widerspruch an, besann sich aber eines Besseren. »Okay, Ma’am.«
»Sie können mich Mary nennen.« Wieder hatte sie diesen Hauch eines Lächelns auf den Lippen. »Aber wenn Sie mich Ma’am nennen, werden Sie in diesem Gebäude sehr viel besser bedient.«
Er lächelte sie an.
»Das Büro ist oben«, sagte sie und nahm Platz, um das Telefon abzunehmen. »Da sind auch alle seine Akten und Unterlagen. Die wollen Sie sich doch bestimmt ansehen.«
»Ja.«
Joe nahm Aktentasche und Tagesrucksack vom Tresen und ging die breite Treppe in den ersten Stock hinauf. Köpfe von Wapitis, Rotwild und Dickhornschafen beobachteten seinen Aufstieg mit glasäugiger Gleichgültigkeit, als hätten sie solche wie ihn schon zuhauf gesehen.
»He, Joe Pickett«, rief Mary ihm nach.
Er blieb auf der obersten Stufe stehen und drehte sich um.
Sie senkte den Hörer und legte die Hand auf die Sprechmuschel. »Kann sein, dass Sie gleich einen Einsatz haben. Mitten im Wapiti-Rückzugsgebiet bauen angeblich Leute ein Zelt auf. Gut möglich, dass Sie das überprüfen und sie von dort vertreiben müssen.«
Er zögerte. »Gut … «
»Und Sie haben mehrere Nachrichten von Ihrer Frau. Sie klang nicht gerade glücklich.« Mary lächelte zum ersten Mal. Es war ein mitleidiges Lächeln.
»Sie hat die Nachricht aus der Zentrale auch nicht bekommen.«
»Willkommen in Jackson Hole.«
Will Jensens Namensschild steckte noch im Wechselrahmen aus Messingimitat neben dem dritten Büro links. Joe zögerte, sah den Flur auf und ab, öffnete behutsam die unverschlossene Tür und stieß sie vorsichtig auf. Die Jalousien waren zwar heruntergezogen, doch durch die Lamellen fiel ein wenig Licht herein. Erst nach einigen Sekunden trat er ein und konnte sich des Gefühls einer voyeuristischen und ein wenig makabren Situation nicht erwehren. Er wollte nicht gesehen werden, wollte nicht, dass jemand sagte, er sei in Wills altes Büro geprescht, als gehöre es ihm. Er tastete nach dem Schalter neben der Tür und machte Licht.
Sofort hatte er den Eindruck, dass Will vorgehabt hatte, in sein Zimmer zurückzukehren: Auf dem Schreibtisch waren Unterlagen ausgebreitet, und auf einem Untersetzer stand eine offene Dose Limonade; ein Kuli lag mit abgezogener Kappe auf einem großen, dünnen Spiralnotizbuch; der Ventilator des Computers summte – das Gerät war also nicht heruntergefahren worden und arbeitete im Stand-by-Modus.
Joe ließ die Tür offen und warf Tagesrucksack und Aktentasche auf den Stuhl gegenüber dem Schreibtisch.
Das Zimmer war spartanisch eingerichtet, wie das Büro eines Menschen, der es selten nutzte oder so schnell wie möglich wieder verlassen wollte. Das passte zu dem, was Joe von Will und den meisten Jagdaufsehern wusste: Ihr wahrer Arbeitsplatz war draußen. Sie nutzten den Schreibtisch nur widerwillig, verbrachten dort nur so viel Zeit wie unbedingt nötig, und begaben sich dann wieder ins Gelände.
Ein billiges Regal war zu einem Viertel mit den für Aktenvermerke und Gesprächsnotizen bestimmten Heftmappen der Behörde sowie mit Gesetzessammlungen gefüllt. Reißzwecken hielten einen Kalender mit alter Winchester-Munition an der Wand. Es gab keine Privatfotos, keine Zeichnungen der Kinder. Die einzige Zierde war eine gerahmte, verblichene und etwas schief hängende Aufnahme vom Wapiti-Rückzugsgebiet im Winter. Joe war sofort klar, dass entweder Mary oder Wills Frau das Foto aufgehängt
Weitere Kostenlose Bücher