Todfeinde
der Trauergäste zu beobachten. Zuvor hatte er zu Hause angerufen, doch niemand war ans Telefon gegangen. Der Bourbon vom Vorabend und die nahezu schlaflose Nacht hatten ihm einen dumpfen Kopfschmerz beschert. In der Kapelle war es kalt, und er war froh über das kehlige Rumpeln des Ofens hinter einer Tür in Altarnähe: Offenbar hatte jemand den Thermostat hochgedreht.
Auf dem roten Teppich vor dem Podium war eine Messingurne aufgestellt worden. Verdammt, dachte Joe, von Will ist kaum noch was übrig, nur seine Asche und ein gerahmtes Foto, das ihn in seiner roten Jagdaufseher-Uniform zeigt. Auf dem Bild sattelte er eins seiner Pferde und sah den Fotografen mit einem verrückten Lächeln an. Was damals wohl so lustig gewesen sein mochte? Auf der anderen Seite der Urne stand ein Bild der Jensen-Familie: Will, Susan und die beiden Söhne, die schlecht sitzende Jacketts und Krawatten trugen. Das Foto war wohl nicht mehr ganz neu, denn die Kinder schienen in etwa in dem Alter zu sein, als Joe sie im Haus ihrer Eltern zum ersten und letzten Mal gesehen hatte. Auf dem Bild wirkte die Familie steif, aber glücklich. Mit ihren Krawatten, vermutete Joe, hatten Will und die Jungen sich wahrscheinlich nicht besonders wohl in ihrer Haut gefühlt.
Joe hatte den Vormittag im Büro verbracht und sich durch die ersten drei Notizbücher und die Hälfte des vierten gearbeitet. Mit der Zeit hatten sich Muster herauskristallisiert. Die Aufzeichnungen begannen jeweils im Januar, wenn Will einen Großteil der Zeit im Büro saß und Berichte über oft kontroverse Angelegenheiten verfasste, zu denen er sich zu äußern hatte, und sich mit den örtlichen Ranchern und Jagdführern oder Mitarbeitern von Bundeseinrichtungen traf. Während des Frühlings hatte er weiterhin viele Berichte zu schreiben und Einschätzungen abzugeben, bereitete sich aber schon auf den Sommer und den Herbst vor, bewegte also die Pferde, reparierte seine Ausrüstung und Sattel- und Zaumzeug, inspizierte die Jagdlager und sprach Empfehlungen zur Länge der Saison und zur Anzahl der zum Abschuss freizugebenden Tiere aus. In den Sommermonaten war er dann fast täglich im Gelände unterwegs gewesen, hatte an Flüssen und Seen Angelerlaubnisse überprüft und den Rotwild-, Wapiti- und Elchbestand überschlägig gezählt oder war mit dem Packpferd ins Hinterland geritten, um seine abgelegene Hütte auf Winterschäden hin zu überprüfen. Erwartungsgemäß überstürzten sich im Herbst die Aktivitäten, wenn die Saison begann und eine Tierart nach der anderen zur Jagd freigegeben wurde. Für diese Jahreszeit war kein klares Muster in Wills Aufzeichnungen zu erkennen. Erst dachte Joe, er sei intuitiv von Ort zu Ort geeilt und scheinbar nach dem Zufallsprinzip durch teils zugängliche, teils entlegene Gebiete patrouilliert, ohne einen konkreten Plan zu verfolgen, sein Revier sinnvoll abzudecken. An dem einen Tag war er ganz im Südosten mit dem Pick-up unterwegs, am nächsten Tag durchritt er den äußersten Nordwesten und blieb dort einige Nächte. Doch dann begann Joe zu begreifen, welche Logik dahintersteckte, und er bewunderte Wills Art zu arbeiten.
Ein auf sich gestellter Jagdaufseher kann in einem fast fünftausend Quadratkilometer großen, oft unwegsamen Revier nur effektiv arbeiten, wenn er äußerst unberechenbar ist, seine Züge durchs Gelände also keinem regelmäßigen Muster folgen. Würde er systematisch kontrollieren, zum Beispiel von Nord nach Süd oder den Flüssen folgend, können Wilderer und sonstige Gesetzesbrecher seinen Aufenthaltsort berechnen und ihre Pläne jederzeit ändern, um ihm aus dem Weg zu gehen. Doch indem er ständig in Bewegung bleibt, wissen sie nie, wann und wo er als Nächstes auftaucht. Joe war überzeugt, dass die Jäger und Angler – und vor allem die professionellen Jagdführer – sich untereinander über Wills Aufenthaltsort austauschten. Falls sie aber nicht wussten, wann und aus welcher Richtung kommend er ihre Camps kontrollierte, mussten sie jederzeit auf ihn vorbereitet sein, also tadellose Genehmigungen haben, ihre Jagdlager in gutem Zustand halten und Recht und Gesetz befolgen.
Joe kannte den »Familienzusammenhalt« der Jäger und Angler nur zu gut und hatte sich angewöhnt, freundlich zu ihnen zu sein, seine Absichten aber für sich zu behalten. Wenn er in Stockman’s Bar ein Bier trank, mit der Familie in ein Restaurant ging oder in Saddlestring etwas erledigte, machte sich immer wieder jemand ganz unschuldig an
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