Todfeinde
ihn heran und fragte nach seinem Tag: wo er gewesen sei, ob er Rotwild gesehen habe, wohin er morgen wolle. Oft ging es dabei einfach nur darum, miteinander zu plaudern, doch manchmal steckte auch mehr dahinter.
Er hatte gelernt, rein gar nichts preiszugeben.
Joe drehte sich in seiner Kirchenbank um, als hinter ihm die Tür aufging und das Gemurmel von Stimmen zu hören war. Susan Jensen und ihre beiden Jungen sowie drei ältere Leute – zwei Frauen und ein Mann – traten ein. Der Mann, zweifellos der Großvater, geleitete die Kinder den Gang hinunter. Sie wirkten wie Miniaturausgaben ihres Vaters: behäbig, ernst und ganz und gar nicht mädchenhaft. Der Jüngere gab dem Älteren einen Stoß, als der ihn rempelte, und der Großvater beugte sich verlegen vor und tadelte ihn sanft.
Susan wirkte wesentlich älter, als Joe sie in Erinnerung hatte. Sie sah verhärmt, blass und mitgenommen aus. Sie hatte kurzes braunes Haar und blaue Augen und trug einen professionell wirkenden Hosenanzug, der ihr gut stand. Joe erhob sich, und sie blickte zu ihm auf. Der Ausdruck verschiedenster Emotionen huschte über ihr Gesicht: Wiedererkennen, Dankbarkeit, und dann noch etwas anderes. Abscheu, vermutete Joe.
»Es tut mir so leid, Susan«, sagte er und kam durch den Gang auf sie zu.
»Danke, dass Sie gekommen sind, Joe.« Ihr Blick war leer, doch ihre Mundwinkel zuckten. Sie hatte wahrscheinlich schon mehr als genug geweint. »Es ist sehr anständig von Ihnen, dass Sie gekommen sind.«
Er wollte sie nicht merken lassen, dass er in Jackson war, um Wills Bezirk zu übernehmen. Sie sollte denken, er sei aus freien Stücken angereist.
»Sind noch andere Jagdaufseher hier?« Sie sah sich kurz in der leeren Kapelle um.
»Der Vizedirektor wird kommen«, sagte Joe und wünschte, der Direktor selbst wäre stattdessen anwesend – oder zumindest jemand anderes als Randy Pope.
»Okay«, sagte sie ausdruckslos. Ihm war klar, dass sie enttäuscht war, sich aber damit abfand. Ihr wird so manches durch den Kopf gehen, überlegte er. Wäre Will bei der Arbeit durch einen Unfall oder die Schuld eines anderen ums Leben gekommen, wäre die Kapelle voller roter Uniformhemden gewesen.
Doch das war nicht der Fall.
»Kommen Sie nachher zur Trauerfeier?«, fragte sie.
Daran hatte er noch gar nicht gedacht. »Ja.«
»Gut … Ist Ihre Frau auch hier? Marybeth?«
»Sie konnte es nicht einrichten. Die Schule und all die Verpflichtungen.«
»Ich kann das nachvollziehen«, sagte Susan. Ihr Blick löste sich von Joe. »Als alleinerziehende Mutter.«
Joe bemühte sich, nicht zusammenzuzucken.
»Dann sehen wir uns vielleicht bei der Trauerfeier.« Sie reichte ihm die Hand. Sie war eiskalt.
Joe hatte sich gerade wieder gesetzt und wunderte sich noch über den zwischenzeitlichen Ausdruck von Abneigung in Susan Jensens Miene, als die Tür aufschlug und eine raue Stimme sagte: »Verdammt!«
Joe wandte sich um und sah einen Mann übertrieben behutsam die Tür schließen, sich dann auf dem Absatz herumdrehen, in die Kapelle treten und mit zusammengekniffenen Augen in das Halbdunkel blicken.
Er war von massiger Statur, mit einer breiten Brust und dicken Schenkeln, hatte kräftige Schultern und trug einen Schafsledermantel, spitze, hochhackige Cowboystiefel und einen fleckigen, ramponierten Filzhut, den er sofort abnahm und unter dem ein stahlgrauer, ungekämmter Schopf zum Vorschein kam. Seine bronzenen Augen glühten unter buschigen Brauen, und er blinzelte in die Kapelle, als wäre er es gewohnt, nach Bewegungen auf fernen Berghängen und -sätteln Ausschau halten. Sein wettergegerbtes Gesicht, die rauen Hände und die dicke Kleidung deuteten darauf hin, dass er sich viel im Freien aufhielt.
»Hab die Tür nicht so aufschlagen wollen«, brummte er in den Raum.
Und Joe stand auf, um Smoke Van Horn zu begrüßen.
Dieser nahm seine Hand, drückte einmal fest zu und ließ sie wieder los.
»Sie sind der Neue, hm?« Joe fand, dass er diese Frage angesichts der Umstände leiser hätte stellen sollen. Er spürte, wie Susan Jensen und ihre Jungen sich umdrehten, um zu schauen, woher die plötzliche Unruhe kam.
»Ja, Sir«, erwiderte er leise und hoffte, dass sich Smoke ein Beispiel daran nehmen würde.
»Hoffentlich kommen wir miteinander klar«, entgegnete Smoke in unveränderter Lautstärke. »Will und ich hatten unsere Kontroversen, aber er hat gelernt, mit mir auszukommen. Eine Zeit lang jedenfalls.« Smoke lachte auf.
In den Notizbüchern, die Joe
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