Todfeinde
gedämpfter Schuss, dann wie ein aufgescheuchter Vogel, der in die Dunkelheit davonflatterte.
Er konnte nicht genau sagen, wie lange er reglos und auf allen vieren auf dem Fußboden verharrte und mit hängendem Kopf versuchte, sich zu sammeln. Obwohl er sich nicht daran erinnern konnte, sich beim Sturz den Kopf gestoßen zu haben, wurde er beinahe ohnmächtig, als er sich aufsetzte. Benommen sank zur Seite, rutschte dabei aus dem Schlafsack und lag nackt und mit offenen Augen auf dem kalten Holzboden, bis er sich allmählich wieder orientieren konnte.
Er stand schwankend auf, tappte zur Tür und drückte den Lichtschalter. Grelles Licht erfüllte das Zimmer. Nackt stand er da und rieb sich die Augen, doch er sah nur verschwommen.
Noch immer nicht ganz wach, sah er sich um, und endlich fiel ihm ein, wo er sich befand. Sein Schlafsack lag auf dem Boden und das Kissen auf der Matratze war durchgeschwitzt. Hatte er geträumt, einen Vogel aufgescheucht zu haben? Woher kam diese Erinnerung?
Während er sich Jeans und T-Shirt anzog, rief er sich das Geräusch wieder ins Gedächtnis: ein schnelles Pochen, als wäre ein Fasan aus dem Unterholz gebrochen. Oder – und bei diesem Gedanken bekam er Gänsehaut – als wäre jemand weggerannt.
Joe sah sich um und versuchte sich zu erinnern, wohin er seine Waffe vor dem Schlafengehen gelegt hatte. Er zog die .40er Beretta aus dem Holster, schlich auf Zehenspitzen den Flur hinunter und untersuchte systematisch alle Zimmer, öffnete die Wandschränke und spähte um die Ecken, doch das Haus war leer, die Außentüren waren verriegelt, die Fenster zu. Er fühlte sich noch immer benommen, als würde sich eine furchtbare Grippe ankündigen.
Nachdem er sicher war, allein im Haus zu sein, setzte er sich ins Esszimmer und legte die Beretta auf den Tisch. Er rieb sich Augen und Gesicht und wusste nicht recht, ob er versuchen sollte, ganz wach zu werden, oder besser wieder schlafen ging.
Vielleicht bin ich einfach nur erschöpft, überlegte er. Fast eine Woche lang hatte er schlecht geschlafen, er war aus seinem gewohnten Umfeld und Alltag herausgerissen worden und vermisste Marybeth und seine Töchter. Er ließ den Kopf in den Nacken sinken und stellte fest, dass er auf das Loch in der Decke starrte.
»Hier hat Will gesessen«, sagte er. »Genau auf diesem Stuhl.«
Unwillkürlich wanderte sein Blick zuerst zur Beretta und dann zur Urne, nicht ohne sich sogleich des melodramatischen Potenzials der Situation bewusst zu werden. Er stand auf und schüttelte den Kopf, um seine Benommenheit loszuwerden. Vielleicht fühlte er sich ja wegen des sauren Biers oder wegen des strengen Geruchs der Desinfektionsmittel, der im ganzen Haus hing, so seltsam.
Er schloss die Haustür auf und trat barfuß auf die Veranda. Raureif glitzerte im Gras. Joe atmete tief ein. Die eisige Luft stach wie Stecknadeln in der Lunge, und gleich fühlte er sich besser. Sein Kopf wurde langsam klar. Er stand auf der Veranda und pumpte Nachtluft in sich hinein, bis er vor Kälte zitterte. Dann ging er ins Haus zurück und wollte schon in den Schlafsack kriechen, als ihm etwas einfiel. Er zog seine Stiefel an, nahm die Taschenlampe aus dem Tagesrucksack und die Beretta vom Tisch, ging durch die Waschküche, entriegelte die Hintertür und trat auf den winzigen Hof hinaus. Die Schirmkronen der Pyramidenpappeln verdeckten den Himmel. Joe schaltete die Taschenlampe ein und schwenkte sie herum, bis der Lichtstrahl auf Fußspuren traf, die sich im Raureif vor seinem Schlafzimmerfenster abzeichneten. Den Stiefelabdrücken nach zu urteilen musste sein Sturz aus dem Bett jemanden aufgeschreckt haben, der dann mit großen Schritten davongerannt war.
DRITTER TEIL
Sie blicken durch die Zellophanverpackung auf das schmierig rote Fleisch im Supermarkt. Wie heißt es da immer? Sehr gut? Schmackhaft? Erstklassig? Geprüfte Qualität? Und schon klebt das Blut an Ihren Händen. Das ist unausweichlich.
Thomas McGuane: An Outside Chance
Wir müssen den Jungen bemitleiden, der nie ein Gewehr abgefeuert hat; er ist nicht menschlicher als andere, doch seine Erziehung wurde traurig vernachlässigt … Müsste ich in der Wildnis leben, ich würde … ernstlich ein Fischer und Jäger werden.
Henry David Thoreau: Walden
16. KAPITEL
Es war früher Sonntagmorgen, und Jackson lag noch dunkel und still da. Joe war groggy. Nachdem er mitten in der Nacht erwacht und aus dem Bett gefallen war, hatte er nicht mehr schlafen können. Stattdessen
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