Todgeweiht im Münsterland - Westfalen-Krimi
leicht es ist, eine Leiche verschwinden zu lassen.«
Ich widersprach.
»Du siehst es doch, Cornelia. Irgendwann taucht jede Leiche wieder auf.« Und da
ich ohnehin gerade eine mystische Phase durchmachte, ergänzte ich: »Wer weiß,
vielleicht war der Blitzeinschlag in den Baum der erste Versuch, Clemens wieder
ans Licht zu bringen.«
Cornelia
schüttelte sich, als liefe ihr eine Gänsehaut über den Rücken. In diesem Moment
hätte ich sie liebend gern an meine männliche Brust gezogen und ihr schöne
Worte ins Ohr geflüstert.
»He, Michael. Ich
darf dich doch so nennen, oder? Glaubst du an solche Dinge?« Der Jungbauer
schaute mich offen und ohne Spott an.
»Ich fange gerade
an, mich mit meinen Glauben zu beschäftigen. Aber ich finde die Vorstellung von
göttlicher Bestrafung oder auch Unterstützung reizvoll.«
Matthias nickte
einige Male still für sich, dann sagte er: »Meine Urgroßmutter soll so etwas in
der Art gesagt haben, an dem Morgen nach diesem schrecklichen Gewitter. Es
stimmt was nicht mit diesem Baum – der Baum muss weg.«
Cornelia lachte
plötzlich nervös auf. »Meine Güte, ich habe gar nicht gewusst, dass die
Westfalen so abergläubisch sind!«
Einem Impuls
folgend stellte ich mich hinter Cornelia und legte meine Hände wie zufällig auf
ihre Schultern. Sie fühlten sich weich an. Ihr Nacken war schlank, und gern
hätte ich ihn gestreichelt. Stattdessen beugte ich mich zu ihrem Ohr hinab und
flüsterte theatralisch: »Hast du etwa noch nie von den Spökenkieker-Kindern
gehört?«
Sie drehte ihren
Kopf, und für eine Sekunde berührten sich unsere Nasen beinahe. Dann setzte ich
mich ihr gegenüber auf einen Sessel und griff nach meinem Rotwein.
»Wer soll das
sein, diese Kinder?«
»Spökenkieker, so
nannte man hier diejenigen, die das zweite Gesicht hatten. Sie konnten in die
Zukunft schauen. Diese Kinder waren nicht sehr beliebt. Keine Familie wollte
einen Spökenkieker haben. Das war unheimlich, brachte schlimmstenfalls Unglück
über die Familie.«
»Heute würde man
diese Kinder zu purem Gold machen und mit ihrer Hilfe die Lottozettel
ausfüllen.«
Jetzt mischte sich
Matthias ein. »So funktionierte das leider nicht. Die Spökenkieker bekamen ganz
plötzlich Visionen, Vorahnungen oder hatten einen Traum. Meist ging es dabei um
schlimme Ereignisse und Unglücksfälle. Deshalb glaubten viele Menschen, sie
brächten das Unglück mit sich.«
Ich erwiderte:
»Man kann es ihnen nicht verdenken. Ein angekündigtes Unheil ist beinahe noch
schrecklicher, als wenn etwas unverhofft geschieht. Es erinnert an sich selbst
erfüllende Prophezeiungen, so als wäre das Ganze erst dadurch möglich geworden,
weil irgendjemand es ausgesprochen hat. Versteht ihr, was ich meine?«
Cornelia schaute
uns fragend an.
Ich nahm mir
dringend vor, noch mehr über diese »Spökenkieker« herauszufinden. Ganz
offensichtlich gehörten derartige Prophezeiungen und Todesahnungen nicht nur an
die Küste. Vielleicht fand ich etwas, was mir weiterhelfen konnte. Nur was? Ein
Bannspruch? Beschwörungsformeln? Das alles gehörte irgendwie nicht in unsere
Zeit, fand ich.
In diesem Moment
bellten plötzlich zwei Hunde. Es klang wütend, nahezu aggressiv, und Cornelia
zuckte sichtlich zusammen.
Für einen Moment
starrten wir uns alle drei an, dann stürzte Matthias zur Haustür.
»Renn nicht so
einfach zur Tür heraus, Matthias. Denk daran, was letzte Nacht geschehen ist.«
Cornelia sprang nun ebenfalls aus ihrem Sessel auf.
Ich kannte mich
mit Hunden nicht so gut aus, aber bellten die nicht öfter mal einfach so los?
»Vielleicht streiten sich die Hunde gerade?«
Ich hatte diesen
Einwurf betont lässig gemacht und bekam die verdiente Belehrung – und einen
Auftrag, den ich nicht verdient hatte.
»Zora und Kira
sind Mutter und Tochter aus unserer eigenen Zucht«, sagte Matthias. »Die
streiten sich nicht einfach so. Wenn die beiden derartig bellen, dann schleicht
jemand auf dem Hof herum. Ich hole mein Gewehr und schau mich mal um. Kannst du
mit einem Gewehr umgehen, Michael? Dann komm mit.«
Ich hatte den
bedenklichen Eindruck, dass es ihm völlig egal war, ob ich schon mal ein Gewehr
in der Hand gehabt hatte. Er brauchte einen zweiten Mann, und ich sah wie einer
aus.
Matthias zog mich
hinter sich her, verschwand in einer kleinen Kammer und kam mit zwei Gewehren
wieder heraus. Ich hätte es nicht geglaubt, aber man geht anders mit einem
Gewehr im Arm. Es liegt in der Hand wie ein Heldenbanner, und dann muss
Weitere Kostenlose Bücher