Todsünde
vorbei.
Maura setzte sich zu Rizzoli auf die Couch. »Wie geht’s Ihnen, Jane? Sie sehen fix und fertig aus.«
»Ich fühle mich beschissen. Ausgelaugt – als ob es mir auch noch den letzten Rest Energie aus den Knochen saugt. Und für mich selbst bleibt nichts mehr übrig.« Sie leerte den Becher in einem Zug und zielte nach dem Abfalleimer. Der Wurf ging fehl. Doch sie starrte den Becher nur an, viel zu müde, um sich aufzuraffen und ihn aufzuheben.
»Das Mädchen hat ihn identifiziert«, sagte Rizzoli.
»Was?«
»Noni.« Sie hielt inne. »Gabriel hat sich richtig geschickt angestellt. Hat mich irgendwie überrascht. Ich hätte nicht gedacht, dass er so gut mit Kindern umgehen kann. Er ist so schwer einzuschätzen, wissen Sie. So verschlossen. Aber er hat sich einfach mit ihr hingehockt, und sie hat ihm gleich aus der Hand gefressen ...« Sie blickte versonnen in eine Ecke, doch dann gab sie sich einen Ruck.
»Sie hat Redfield auf einem Foto erkannt.«
»Er war also der Mann, der mit unserer Unbekannten in Graystones aufgetaucht ist?«
Rizzoli nickte. »Sie waren beide dort und haben nach Schwester Ursula gefragt.«
Maura schüttelte den Kopf. »Ich verstehe es einfach nicht. Was in aller Welt hatten diese drei Menschen miteinander zu schaffen?«
»Das ist eine Frage, die nur Schwester Ursula hätte
beantworten können.« Rizzoli stand auf und zog ihren Mantel an. Sie wandte sich zur Tür um, hielt dann aber inne und sah Maura an. »Sie war noch bei Bewusstsein.«
»Schwester Ursula?«
»Kurz bevor ihr Herz stehen blieb, hat sie noch mal die Augen aufgeschlagen.«
»Glauben Sie wirklich, dass sie bei vollem Bewusstsein war? Dass sie ihre Umgebung wahrgenommen hat?«
»Sie hat die Hand der Schwester gedrückt. Sie hat auf das reagiert, was man ihr sagte. Aber ich hatte keine Gelegenheit, mit ihr zu sprechen. Und dann stand ich da, und sie hat mich angeschaut, kurz bevor ...« Rizzoli stockte, als ob der Gedanke sie erschütterte. »Ich bin der letzte Mensch, den sie gesehen hat.«
Maura trat durch die Tür der Intensivstation. Sie ging vorbei an Monitoren mit grün leuchtenden Herzkurven, an Grüppchen von Schwestern, die flüsternd vor den Patientenkabinen standen. Während ihrer Assistenzzeit in der Intensivmedizin war ein nächtlicher Besuch auf der Intensivstation stets mit Stress und Aufregung verbunden gewesen – ob nun einer ihrer Patienten im Sterben lag oder ihre rasche Entscheidung in einer Krisensituation gefragt war. Auch jetzt noch, nach so vielen Jahren, schlug ihr Herz schneller, als sie zu dieser späten Stunde die Station betrat. Doch in dieser Nacht erwartete sie keine medizinische Krise. Sie kam zum Schauplatz einer Schlacht, die bereits verloren war.
In Schwester Ursulas Kabine traf sie auf Dr. Sutcliffe. Er stand am Bett und trug gerade etwas in das Krankenblatt ein. Während sie ihn beobachtete, hielt er plötzlich mit der Kugelschreiberspitze auf dem Papier inne, als hätte er Schwierigkeiten, den nächsten Satz zu formulieren.
»Dr. Sutcliffe?«, sagte sie.
Er sah sie an. Sein braun gebranntes Gesicht war von Strapazen und Schlafmangel gezeichnet.
»Detective Rizzoli hat mich gebeten vorbeizuschauen. Sie sagte, Sie hätten vor, die Geräte abzuschalten.«
»Sie sind wieder mal ein bisschen zu früh dran«, erwiderte er. »Dr. Yuen hat entschieden, dass wir noch ein oder zwei Tage warten sollten. Er will zuerst das EEG sehen.« Er wandte sich wieder seinen Aufzeichnungen zu.
»Das ist doch voller Ironie, oder nicht? Wie viele Seiten in diesem Bericht ihren letzten paar Tagen auf Erden gewidmet sind. Und ihr gesamtes bisheriges Leben nimmt nur einen kurzen Absatz ein. Das finde ich nicht in Ordnung. Irgendwie unwürdig.«
»Immerhin lernen Sie Ihre Patienten kennen, solange sie noch atmen. Dieses Privileg ist mir verwehrt.«
»Ich glaube, Ihr Job wäre nichts für mich, Dr. Isles.«
»Es gibt Tage, da wünsche ich ihn auch zum Teufel.«
»Warum haben Sie dann diesen Beruf gewählt? Warum haben Sie sich für die Toten und nicht für die Lebenden entschieden?«
»Auch sie verdienen Aufmerksamkeit. Sie würden wollen, dass wir herausfinden, woran sie gestorben sind.«
Er sah auf Schwester Ursula herab. »Falls Sie sich fragen, was hier schief gelaufen ist, kann ich Ihnen die Antwort verraten. Wir haben nicht schnell genug reagiert. Wir haben um sie herumgestanden und zugesehen, wie sie in Panik geriet. Wir hätten sie sedieren sollen. Wenn wir sie ein wenig eher
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