Todsünde
begann, konzentrierte sie sich bewusst auf die Aufzeichnungen der Schwester.
0.15 Uhr: Werte: BD auf 130/90 gestiegen, Puls 80. Augen offen. Vollführt gezielte Bewegungen. Drückt rechte Hand nach Aufforderung. Dr.Yuen und Dr.Sutcliffe gerufen, um über Veränderung in Mentalstatus zu unterrichten.
0.43 Uhr. BD auf 180/100 gestiegen, Puls 120. Dr. Sutcliffe eingetroffen. Patientin erregt, versucht Tubus herauszuziehen.
0.50 Uhr: Systolischer BD auf 110 gefallen. Patientin rot im Gesicht und sehr erregt. Dr. Yuen eingetroffen.
1.55 Uhr: Systolischer 85, P 180, Infusion im Schuss ...
Je weiter der Blutdruck sank, desto knapper wurde das Protokoll; die Handschrift wurde entsprechend hastiger, bis sie in ein nahezu unleserliches Gekrakel überging. Maura konnte sich lebhaft vorstellen, was sich in diesem Zimmer abgespielt hatte. Die hektische Suche nach Infusionsbeuteln und Spritzen. Schwestern, die zwischen Bett und Stationszentrale hin- und herrannten, um Medikamente herbeizuschaffen. Sterile Verpackungen wurden aufgerissen, Ampullen geleert, die passenden Dosierungen in aller Eile berechnet. Und all das, während die Patientin in Panik um sich schlug und ihr Blutdruck rapide absackte.
1.00 Uhr: Herzalarm ausgelöst.
Eine andere Handschrift. Eine andere Schwester war eingesprungen, um die Ereignisse zu protokollieren. Die neuen Eintragungen waren sauber und methodisch, das Werk einer Krankenschwester, deren einzige Aufgabe während des Alarms darin bestand, alles zu beobachten und zu dokumentieren.
Kammerflimmern. Defibrillation bei 300 Joule. Lidocain i. v. erhöht auf 4 mg/min.
Defibrillation wiederholt bei 400 Joule. Immer noch Kammerflimmern.
Pupillen geweitet, aber noch lichtreaktiv.
Noch haben sie nicht aufgegeben, dachte Maura; nicht, solange die Pupillen noch reagierten. Solange es noch den Hauch einer Chance gab.
Sie erinnerte sich daran, wie sehr sie sich gegen das Eingeständnis der Niederlage gesträubt hatte, damals während ihrer Assistenzzeit, als sie zum ersten Mal eine Wiederbelebung koordiniert hatte – selbst dann noch, als allen klar gewesen war, dass der Patient nicht mehr zu retten war. Doch die Familie des Mannes hatte draußen vor der Tür gewartet – seine Frau und seine beiden halbwüchsigen Söhne –, und es waren die Gesichter der Jungen gewesen, die Maura vor sich gesehen hatte, als sie dem Patienten ein ums andere Mal die Elektroden des Defibrillators auf die Brust gedrückt hatte. Sie waren beide schon groß genug, um als Männer durchzugehen, mit riesigen Füßen und pickligen Gesichtern, doch sie weinten wie kleine Kinder; und so setzte Maura die Wiederbelebungsversuche fort, auch als längst schon feststand, dass alle Bemühungen vergeblich waren. Noch ein Mal schocken, hatte sie immer wieder gedacht. Nur noch ein einziges Mal.
Sie bemerkte plötzlich, dass Pater Brophy verstummt war. Als sie den Kopf hob, sah sie, dass seine Augen auf sie gerichtet waren. Ein unverwandter Blick, den sie fast als zudringlich empfand.
Und zugleich merkwürdig erregend.
Sie klappte die Akte zu, eine knappe, geschäftsmäßige Geste, die ihre Verwirrung kaschieren sollte. Eben hatte sie noch mit Victor im Bett gelegen, und nun musste sie feststellen, dass sie sich ausgerechnet zu diesem Mann hingezogen fühlte. Oder war sie es, die ihn mit ihrem Geruch anzog? Dem Geruch einer Frau, die so lange auf Sex hat verzichten müssen, dass sie jetzt nicht genug davon bekommen kann?
Sie stand auf und griff nach ihrem Mantel.
Pater Brophy kam auf sie zu, um ihr hineinzuhelfen. Er stand unmittelbar hinter ihr und hielt den Mantel, während sie in die Ärmel schlüpfte. Sie spürte, wie seine Hand ihr Haar streifte. Eine zufällige Berührung, mehr nicht, doch der Schauer, den sie in ihr auslöste, erschreckte sie. Sie machte einen Schritt von ihm weg und knöpfte ihren Mantel zu.
»Bevor Sie gehen«, sagte er, »möchte ich Ihnen gerne etwas zeigen. Kommen Sie mit?«
»Wohin denn?«
»Nach unten, in den vierten Stock.«
Verwirrt folgte sie ihm zum Aufzug. Sie betraten die Kabine, und wieder einmal zwangen die beengten Platzverhältnisse zu allzu großer körperlicher Nähe. Sie stand stocksteif da, die Hände in die Manteltasche gesteckt, und sah mit unbewegter Miene zu, wie die Stockwerksnummern nacheinander aufleuchteten. Und dabei fragte sie sich: Ist es denn eine Sünde, einen Priester attraktiv zu finden?
Vielleicht keine Sünde, aber jedenfalls eine Torheit.
Endlich glitt die
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