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Todsünde

Todsünde

Titel: Todsünde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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Fahrstuhltür auf. Sie folgte ihm den Flur entlang und durch eine Doppeltür in die Herzüberwachungsstation. Wie in der chirurgischen Intensivstation war auch hier die Beleuchtung über Nacht gedämpft. Durch das Halbdunkel führte er sie zur Monitor-Zentrale.
    Die füllige Krankenschwester, die vor den Bildschirmen mit den EKGs der Patienten saß, blickte auf und lächelte so breit, dass ihre Zähne wie eine weiße Spange schimmerten.
    »Pater Brophy! So spät noch unterwegs?«
    Er tätschelte der Schwester zur Begrüßung die Schulter – eine natürliche und ungezwungene Geste, die ein entspanntes, freundschaftliches Verhältnis verriet. Maura fühlte sich daran erinnert, wie sie Brophy zum ersten Mal gesehen hatte. Von Camilles Fenster aus hatte sie ihn über den verschneiten Hof kommen sehen und beobachtet, wie er der älteren Nonne, die ihn begrüßte, tröstend die Hand auf die Schulter gelegt hatte. Dieser Mann hatte keine Scheu vor Berührungen, die menschliche Wärme ausdrückten.
    »Hallo, Kathleen«, sagte er. Unvermittelt war er in den weichen, melodischen Akzent der Bostoner Iren verfallen.
    »Und, war die Nacht bisher ruhig?«
    »Bis jetzt schon – hoffen wir, dass es so bleibt. Haben die Schwestern Sie zu einem bestimmten Patienten gerufen?«
    »Nicht zu einem von Ihren Schützlingen. Wir waren oben auf der chirurgischen Intensivstation. Aber ich wollte, dass Dr. Isles noch kurz hier hereinschaut.«
    »Um zwei Uhr früh?« Kathleen sah Maura an und lachte. »Der Mann hält einen in Atem. Er kommt ja selbst nie zur Ruhe.«
    »Ruhe?«, meinte Brophy. »Was ist das?«
    »Das ist wohl nur was für gewöhnliche Sterbliche wie uns.«
    Brophy blickte auf den Monitor. »Und wie geht es unserem Mr. DeMarco?«
    »Ach, Sie meinen Ihren speziellen Freund? Er wird morgen auf Station verlegt. Ich würde also sagen, es geht ihm prima.«
    Brophy deutete auf das EKG von Bett 6. Eine ruhige Kurve glitt über den Schirm. »Da«, sagte er und berührte Maura leicht am Arm. Sie spürte den Hauch seines Atems im Haar. »Das wollte ich Ihnen gerne zeigen.«
    »Wieso?«
    »Mr. DeMarco ist der Mann, den wir auf dem Gehsteig vor dem Kloster wiederbelebt haben.« Er sah sie an. »Der Mann, dem Sie prophezeit haben, dass er nicht überleben würde. Da haben Sie Ihr Wunder. Ihres und meines.«
    »Ich würde das nicht unbedingt ein Wunder nennen. Ich habe mich schon öfter geirrt.«
    »Überrascht es Sie denn gar nicht, dass dieser Mann das Krankenhaus gesund verlassen wird?«
    Sie sah ihn an. Die Stille und die Dunkelheit ringsum schufen eine fast intime Atmosphäre. »Es gibt nicht allzu vieles, was mich noch überraschen kann«, sagte sie. Sie hatte nicht zynisch klingen wollen, aber genauso hörte es sich an, und sie fragte sich, ob er wohl von ihr enttäuscht war. Es schien ihm aus irgendeinem Grund wichtig zu sein, dass sie so etwas wie Verwunderung zum Ausdruck brachte, doch alles, was er von ihr bekommen hatte, war die verbale Entsprechung zu einem Schulterzucken.
    Als sie mit dem Fahrstuhl zur Eingangshalle hinunterfuhren, sagte sie: »Ich würde ja gerne an Wunder glauben, Pater. Wirklich. Aber ich fürchte, eine eingefleischte Skeptikerin wie mich kann man nicht so leicht umstimmen.«
    Er antwortete mit einem Lächeln: »Sie sind mit einem brillanten Verstand gesegnet, und natürlich sollen Sie ihn auch benutzen. Sie sollen Ihre eigenen Fragen stellen und Ihre eigenen Antworten finden.«
    »Ich bin mir sicher, dass Sie sich die gleichen Fragen stellen wie ich.«
    »Jeden Tag.«
    »Und doch glauben Sie an das Göttliche. Ist Ihr Glaube noch nie erschüttert worden?«
    Eine Pause trat ein. »Nein, nicht mein Glaube. Auf den kann ich mich verlassen.«
    Sie hörte eine leise Unsicherheit aus seiner Antwort heraus und musterte ihn fragend. »Und woran zweifeln Sie?«
    Er erwiderte ihren Blick, und sie hatte das Gefühl, dass er geradewegs in ihr Gehirn sehen und die Gedanken lesen konnte, die sie vor ihm verbergen wollte. »An meiner Stärke«, sagte er leise. »Manchmal zweifle ich an meiner eigenen Stärke.«
    Als sie wenig später allein auf dem Parkplatz des Krankenhauses stand, sog sie die schneidend kalte Luft tief in ihre Lungen, wie um sich zu strafen. Die Nacht war klar, die Sterne glitzerten metallisch. Sie stieg in ihren Wagen, und während der Motor warmlief, grübelte sie darüber nach, was gerade zwischen ihr und Pater Brophy passiert war. Im Grunde überhaupt nichts – und dennoch hatte sie das Gefühl,

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