Todsünde
nämlich Geschenke kaufen.«
In ihrem Büro warteten stapelweise Laborberichte und Diktate auf sie, doch nicht einmal das konnte ihre gute Laune trüben. Sie setzte sich an den Schreibtisch und machte sich an die Arbeit, verzichtete sogar – gestärkt durch die eine oder andere Praline – auf die Mittagspause, in der Hoffnung, sich um drei davonstehlen und schnurstracks das Saks Fifth Avenue ansteuern zu können.
Womit sie nicht gerechnet hatte, war ein Besuch von Gabriel Dean. Als er an diesem Nachmittag um halb drei ihr Büro betrat, ahnte sie noch nicht, dass sein Auftauchen ihre Pläne für den Rest des Tages vollkommen über den Haufen werfen würde. Wie immer fiel es ihr schwer, seine Gedanken zu erraten, und einmal mehr musste sie über die höchst unwahrscheinliche Affäre zwischen der temperamentvollen Rizzoli und diesem unterkühlten, undurchschaubaren Mann staunen.
»Ich fliege heute zurück nach Washington«, sagte er, während er seine Aktentasche abstellte. »Aber vorher wollte ich Sie noch um Ihre Meinung zu einem bestimmten Thema bitten.«
»Ja, selbstverständlich.«
»Dürfte ich zunächst einmal die Leiche Ihrer unbekannten Toten sehen?«
»Es steht alles in meinem Autopsiebericht.«
»Trotzdem denke ich, dass ich sie mit eigenen Augen gesehen haben sollte.«
Maura erhob sich von ihrem Stuhl. »Ich muss Sie aber warnen«, sagte sie. »Der Anblick ist nicht leicht zu ertragen.«
Durch die Kühlung kann der Prozess der Verwesung nur verlangsamt, aber nicht aufgehalten werden. Als Maura den Reißverschluss des weißen Leichensacks öffnete, musste sie sich gegen den Geruch wappnen. Auf das Aussehen des Leichnams hatte sie Dean bereits vorbereitet, und er zuckte nicht mit der Wimper, als die Plastikhülle sich teilte und das rohe Fleisch sichtbar wurde, dort, wo einmal das Gesicht gewesen war.
»Es wurde in einem Stück abgezogen«, erklärte Maura.
»Die Haut wurde am Haaransatz entlang aufgeschlitzt und dann nach unten abgezogen. Mit einem weiteren Schnitt unterhalb des Kinns hat er sie dann ganz abgelöst. Er hat es wie eine Maske abgerissen.«
»Und die Haut hat er mitgenommen?«
»Und das ist nicht das Einzige, was er mitgenommen hat.« Maura zog den Reißverschluss ganz auf. Der Gestank war jetzt
so überwältigend, dass sie es bedauerte, keine Schutzmaske angelegt zu haben. Doch Dean hatte nur darum gebeten, einen kurzen Blick auf die Leiche werfen zu dürfen, und so hatten sie lediglich Handschuhe übergestreift.
»Die Hände«, sagte er.
»Sie wurden beide entfernt, ebenso wie Teile der Füße. Zuerst glaubten wir es mit einem Sammler zu tun zu haben. Körperteile als Trophäen. Die andere Möglichkeit war, dass er versucht hatte, ihre Identität zu verschleiern. Keine Fingerabdrücke, kein Gesicht. Das wäre ein praktischer Grund für die Verstümmelungen gewesen.«
»Aber nicht für die Amputation der Füße.«
»Und das war der logische Bruch, der mich darauf brachte, dass es noch einen anderen Grund für die Amputationen geben könnte. Sie dienten nicht dazu, ihre Identität zu verbergen, sondern sollten verschleiern, dass sie an Lepra erkrankt war.«
»Und dieser Hautausschlag? Ist das auch eine Folge der Erkrankung?«
»Diese Erscheinung trägt den Namen Erythema nodosum leprosum. Es handelt sich um eine Reaktion auf die Therapie. Sie hat offensichtlich Antibiotika gegen die Hansen-Krankheit bekommen. Deshalb konnten wir in den Gewebeproben der Haut auch keine aktiven Erreger entdecken.«
»Es ist also gar nicht die Krankheit selbst, die diese Geschwüre verursacht?«
»Nein, das ist eine Nebenwirkung der Antibiotika-Behandlung. Nach den Röntgenaufnahmen zu schließen hat sie schon längere Zeit, wahrscheinlich viele Jahre, an der Hansen-Krankheit gelitten, bevor sie erstmals behandelt wurde.« Sie blickte zu Dean auf. »Haben Sie genug gesehen?«
Er nickte. »Jetzt möchte ich Ihnen etwas zeigen.« Als sie wieder oben in Mauras Büro waren, öffnete er seine Tasche und nahm einen Aktenordner heraus. »Nach unserem Treffen gestern Nachmittag habe ich Interpol angerufen und um Informationen über das Massaker von Bara gebeten. Das hier hat mir die Sonderkommission Verbrechensbekämpfung der indischen Bundespolizei zugefaxt. Sie haben mir auch einige Digitalaufnahmen gemailt, die ich Ihnen gerne zeigen würde.«
Sie schlug den Ordner auf und warf einen Blick auf das Deckblatt. »Das ist eine Polizeiakte.«
»Aus dem indischen Bundesstaat Andhra Pradesh, in dem
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