Todsünde
blickte zu ihrer Tochter auf. »Das bist du.«
»Ja, da hast du Recht.«
»Du bist die Zäheste, Jane. Als du auf die Welt kamst, habe ich dich nur angesehen und mir gleich gedacht: Um die werde ich mir nie Sorgen machen müssen. Die wird sich immer zu wehren wissen, egal was kommt. Unseren Mikey, den hätte ich wahrscheinlich mehr in Schutz nehmen müssen. Der kann sich nicht so gut wehren.«
»Mikey ist mit der Opferrolle groß geworden. Und er wird sich immer wie ein Opfer verhalten.«
»Aber du nicht.« Ein verhaltenes Lächeln zuckte um Angelas Mundwinkel, als sie ihre Tochter ansah. »Als du drei Jahre alt warst, habe ich mit angesehen, wie du gefallen und dir das Gesicht am Couchtisch aufgeschlagen hast. Du hattest eine böse Schnittwunde, hier unter dem Kinn.«
»Ja, die Narbe habe ich immer noch.«
»Die Wunde war so tief, dass sie genäht werden musste. Du hast den ganzen Teppich voll geblutet. Und weißt du, wie du reagiert hast? Rate mal!«
»Ich nehme an, ich habe gebrüllt wie am Spieß.«
»Nein. Du hast auf den Couchtisch eingeschlagen. Hast ihn mit den Fäusten bearbeitet – so!« Angela ließ die Faust so schwungvoll auf den Tisch niederfahren, dass eine Wolke von Mehl aufwirbelte. »Deine ganze Wut hast du an dem Tisch ausgelassen. Du bist nicht zu mir gerannt, hast nicht geweint, als du das Blut gesehen hast. Dein einziger Gedanke war, dich an dem blöden Ding zu rächen, das dir so wehgetan hatte.« Angela lachte und wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. Ein weißer Streifen blieb auf ihrer Wange zurück. »Du warst wirklich ein merkwürdiges kleines Mädchen. Auf keins meiner Kinder war ich so stolz wie auf dich.«
Rizzoli starrte ihre Mutter an. »Das habe ich gar nicht gewusst. Das hätte ich niemals gedacht.«
»Ha, das ist mal wieder typisch! Ihr Kinder habt ja auch keine Ahnung, was ihr euren Eltern zumutet. Wart ab, bis du selber welche hast, dann weißt du, was ich meine. Dann weißt du erst, was das für ein Gefühl ist.«
»Was denn?«
»Liebe«, sagte Angela.
Rizzoli blickte auf die schwieligen Hände ihrer Mutter, und plötzlich brannten ihre Augen, und der Hals tat ihr weh. Sie stand auf und ging zum Spülbecken, um Wasser für die Gnocchi in einen Kochtopf zu füllen. Während sie darauf wartete, dass es kochte, dachte sie: Vielleicht weiß ich ja wirklich nicht, wie Liebe sich anfühlt. Weil ich mich immer mit Händen und Füßen dagegen gewehrt habe. Wie ich mich gegen alles wehre, was mich verletzen könnte.
Sie ließ den Topf auf dem Herd stehen und ging hinaus.
Oben im Schlafzimmer ihrer Eltern griff sie nach dem Telefon. Einige Sekunden lang saß sie mit dem Hörer in der Hand auf dem Bett und kratzte all ihren Mut für den Anruf zusammen.
Tu es. Du musst es tun.
Sie begann zu wählen.
Es klingelte viermal, dann hörte sie die kurze, nüchterne Ansage: »Hier spricht Gabriel. Ich bin im Moment nicht zu Hause. Bitte hinterlassen Sie eine Nachricht.«
Sie wartete auf den Pfeifton und holte noch einmal tief Luft.
»Ich bin’s, Jane«, begann sie. »Ich muss dir etwas sagen, und ich denke, es ist besser, wenn du es auf diesem Weg erfährst. Jedenfalls besser, als wenn ich es dir persönlich sagen würde – so muss ich wenigstens nicht deine Reaktion mit ansehen. Also, wie dem auch sei, kommen wir zur Sache. Ich ... hab’s wieder mal gründlich vermasselt.« Sie musste plötzlich lachen. »Mein Gott,
ich komme mir so blöd vor. Ich werde nie wieder Witze über dumme Blondinen reißen. Also, jedenfalls – es ist so, dass ... na ja, also, ich bin schwanger. Ungefähr achte Woche, denke ich. Und falls du irgendwelche Zweifel haben solltest, kann ich dich beruhigen – ja, das bedeutet, es ist definitiv von dir. Ich verlange gar nichts von dir. Ich will nicht, dass du dich verpflichtet fühlst, irgendetwas zu tun, was Männer normalerweise in so einer Situation tun. Du brauchst mich noch nicht mal zurückzurufen. Aber ich dachte mir, du hast ein Recht, es zu erfahren, weil ...« Sie musste sich räuspern, weil ihr plötzlich die Stimme versagte. »Weil ich beschlossen habe, das Kind zu behalten.«
Sie legte auf.
Eine ganze Weile noch saß sie reglos da und starrte nur ihre Hände an, während die Gefühle mit ihr Achterbahn fuhren. Erleichterung, Angst, gespannte Erwartung – alles, nur keine Zweifel. Sie war sich absolut sicher, die richtige Entscheidung getroffen zu haben.
Sie stand auf und hatte plötzlich das Gefühl, schwerelos zu sein –
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